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Dank eines Paukenröhrchens kann Annabell aus Radeberg wieder gut hören

Etwa 35.000 Kinder pro Jahr bekommen in Deutschland ein Röhrchen ins Ohr eingesetzt. Zwei Professoren für HNO aus Sachsen erklären, wann das nötig ist.

Von Stephanie Wesely
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Annabell aus Radeberg trägt noch Ohrschützer, weil ihr alles noch zu laut ist.
Annabell aus Radeberg trägt noch Ohrschützer, weil ihr alles noch zu laut ist. © privat

Wenn die sechsjährige Annabell aus Radeberg Schlitten fährt und draußen spielt, hat sie immer noch ihre dicken roten Ohrenschützer auf. Das hat zwei Gründe: Zum einen soll damit eine Erkältung und Ohrenentzündung vermieden werden, zum anderen dämpfen sie aber auch den Schall. Im Moment ist ihr einfach noch alles zu laut. Denn vor etwa sechs Wochen bekam sie im Städtischen Klinikum Dresden Paukenröhrchen in beide Ohren eingesetzt – dieser Eingriff gehört zu den häufigsten Operationen im Kindesalter.

„Annabell hat seit etwa eineinhalb Jahren schlecht gehört. Sie sprach auch oft sehr laut und schnarchte in der Nacht“, sagt ihre Mutter Sandra. Hinzu kamen häufige Erkältungen. Die Nase war ständig zu. Die U8-Untersuchung beim Kinderarzt bestätigte den Verdacht der Eltern. Annabell war schwerhörig und wurde zum HNO-Arzt überwiesen. Als Ursache dafür machte er eine vergrößerte Rachenmandel aus – früher „Polypen“ genannt.

Ohrsekret wirkt wie ein Kissen

„Wenn die Rachenmandel entzündet ist, schwillt sie an. Solche Entzündungen können auch chronisch sein“, sagt Professor Volker Gudziol, Chefarzt der HNO-Klinik am Standort Friedrichstadt des Städtischen Klinikums Dresden. Damit werde die Ohrtrompete – die schmale Verbindung zwischen Mittelohr und Nasenrachen – verschlossen. Das Mittelohr werde nicht mehr ausreichend belüftet. „Es entsteht ein Unterdruck, den das Ohr durch Flüssigkeitsansammlung ausgleicht“, so der Dresdner Chefarzt.

Dieses Sekret im Ohr könne sich verdicken und zähflüssig werden – „Beinahe wie Büroleim“, sagt Professor Jens Oeken, Chefarzt der HNO-Klinik am Klinikum Chemnitz. Die Kinder hören wie durch ein Kissen. Die Dresdner und die Chemnitzer Einrichtung behandeln tagtäglich Kinder mit Paukenerguss, wie das Krankheitsbild fachlich korrekt heißt.

„Wir waren uns anfangs noch unschlüssig, ob wir unserer Tochter den Eingriff zumuten sollen, oder ob sich alles vielleicht auch von allein wieder gibt. Doch sie kommt im August in die Schule, und wir wollten nicht, dass sie wegen ihrer Hörprobleme Nachteile hat. Deshalb entschieden wir uns für diesen Schritt“, sagt Annabells Mutter.

Operation ist nicht der erste Schritt

Im Alter von drei bis sechs Jahren durchleben die Kinder eine ganz wichtige Phase. In dieser Zeit entwickeln sich die Sprache und die Intelligenz – sehr viel geht dabei über ein gutes Gehör, so Volker Gudziol. „Und wenn die Kinder etwa 30 bis 40 Dezibel weniger hören, geht ihnen schon eine ganze Menge verloren.“ Das ließe sich später oft nicht so gut aufholen.

„Die Kinder werden nicht sofort operiert. Wir versuchen es zuerst konservativ, zum Beispiel mit einem sogenannten Nasenballon, um den Unterdruck im Ohr auszugleichen“, sagt Jens Oeken. Dabei handele es sich um eine Art Luftballon, der abwechselnd mit einem Nasenloch aufgepustet werden müsse, so der Chemnitzer HNO-Arzt. „Viele kennen das Gefühl, wenn mit zugehaltener Nase Luft in die Ohren gedrückt wird. Dann öffnet sich manchmal eine Art Ventil“, erklärt er. Auch Annabell habe fleißig mit dem Ballon trainiert, der Unterdruck ließ aber nicht nach, das Gehör wurde nicht besser. Es blieb nur die OP.

Zwei Eingriffe in einer OP

„Bei diesem Eingriff wird im ersten Schritt die Rachenmandel unter einer kurzen Vollnarkose abgetragen. Danach erfolgt ein winziger Schnitt ins Trommelfell, um die Flüssigkeit abzusaugen. Bei Kindern sind das etwa fünf Milliliter, bei Erwachsenen doppelt so viel“, so der Dresdner HNO-Arzt. Um einen dauerhaften Druckausgleich zu ermöglichen, wird danach das Röhrchen eingesetzt. Befindet sich wässriges Sekret im Ohr, reiche oft der Schnitt. Dann brauche es kein Röhrchen. „Das ist etwa bei jedem fünften Kind, das operiert wird, der Fall. Die überwiegende Mehrheit braucht das Röhrchen“, so Volker Gudziol.

Annabell sei sehr aufgeregt gewesen, so ihre Mutter. Einen Tag vor der OP erfolgten die Voruntersuchungen, auch die Anästhesie wurde geplant. „Am Folgetag waren wir eigentlich schon morgens zur OP vorgesehen. Es wurde aber Mittag, bis Annabell dran kam. Das Warten war sehr belastend für sie“, erzählt ihre Mutter Sandra. Dafür sei der Eingriff selbst umso unkomplizierter gewesen. Annabell habe keine Schmerzen gehabt und konnte auch wieder gut schlucken. Zwei Tage lang sei sie noch etwas ruhebedürftiger als sonst gewesen. Die Aufregung musste sich wohl erst legen.

Kurze OP – große Wirkung

Die OP selbst dauert kaum eine halbe Stunde“, sagt Professor Godziol. „Und die Kinder hören sofort besser. Manche Kinder erschrecken sogar über die Veränderung.“ Das war auch bei der Sechsjährigen der Fall. Sie hörte sofort wieder gut, muss sich an die Veränderung aber erst gewöhnen. Deshalb trägt sie gern ihre Ohrenschützer. „Annabell spricht heute immer noch etwas laut, doch das kann auch durch den Kindergarten bedingt sein. Die Kinder müssen sich immer übertönen“, sagt die Mutter.

Meist erfolge die OP ambulant, die Kinder könnten danach also gleich nach Hause. „Wenn der Weg zur nächsten HNO-Klinik aber zu weit ist oder die Kinder noch andere Erkrankungen haben, bleiben sie eine Nacht zur Überwachung in der Klinik“, so Volker Gudziol.

Röhrchen fällt von allein heraus

Etwa nach einem halben Jahr werde das Paukenröhrchen idealerweise von selbst abgestoßen. „Es wird nach außen gedrückt“, so Jens Oeken. Solange die Röhrchen noch im Trommelfell liegen, sollten die Kinder möglichst nicht schwimmen gehen oder tauchen. Das durch die Öffnung eindringende Wasser könnte sonst zu Infektionen führen. Zum Baden in der Wanne sollten die Kinder deshalb Ohrstöpsel tragen, rät der HNO-Arzt. Wenn das Röhrchen nicht von selbst abgestoßen werde, werde es herausgezogen. Ob eine Narkose nötig ist, müsse man individuell entscheiden, das hängt von der Empfindlichkeit des Kindes ab. „Wir hoffen jetzt sehr, dass die Röhrchen irgendwann von alleine herausfallen, dann müssten wir nicht noch mal ins Krankenhaus“, so Annabells Mutter. Die Kontrolluntersuchung habe gezeigt, dass die Sechsjährige nun ganz normal hört. „Das ist eine Erleichterung für uns. Wir haben es nicht bereut, uns für diesen Eingriff entschieden zu haben“, sagt sie.