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Wie Finn aus der Lausitz gegen seine tödliche Muskelschwäche kämpft

Während andere Kinder immer mehr können, baut der zehnjährige Finn immer weiter ab. Ein neues Medikament lässt hoffen. Doch die Kosten von 850.000 Euro im Jahr sind nicht das einzige Problem.

Von Stephanie Wesely
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Einfach loslaufen, das geht für den zehnjährigen Finn Marx aus Welzow nicht mehr. Vater Norman hilft.
Einfach loslaufen, das geht für den zehnjährigen Finn Marx aus Welzow nicht mehr. Vater Norman hilft. © Matthias Rietschel

Von seinem Stuhl am Schreibtisch aufzustehen und loszulaufen, ist für den zehnjährigen Finn aus Welzow in der Lausitz eine enorme Kraftanstrengung. Vater Norman macht es unendlich traurig, sehen zu müssen, wie bei seinem Sohn der Muskelabbau immer weiter fortschreitet. „Zum Schulanfang konnte Finn noch selbstständig laufen, auch Sachen vom Boden aufheben, jetzt geht das nicht mehr.“ Mit der Zeit wird er immer pflegebedürftiger werden und sogar Beatmung brauchen. Trotzdem hoffen die Eltern auf ein Wunder.

Finn leidet an der Muskeldystrophie Duchenne. Einer von etwa 3.500 bis 5.000 Jungen kommt mit dieser genetisch bedingten Erkrankung zur Welt. Sie betrifft ausschließlich Jungen, da die Gen-Mutation auf dem X-Chromosom liegt und Jungen nur eins davon haben. Bei Mädchen übernimmt das gesunde zweite X-Chromosom die Funktion. Deshalb ist auch Finns Schwester Fiona nicht erkrankt. Sie kann die Gen-Mutation aber an männliche Nachkommen vererben. Etwa 1.500 bis 2.000 Duchenne-Erkrankte gibt es in Deutschland. Je nach Ausprägung und Behandlung der Krankheit können sie heute bereits das 30. Lebensjahr erreichen. Früher starben diese Kinder im Schnitt mit 14 Jahren.

Forschung gibt Grund zur Hoffnung

Mithilfe von Physio-, Atem- und Ergotherapie kann der Verlust an Muskelkraft verlangsamt werden. Das erhöht auch die Lebenserwartung. Zusätzliches Potenzial bietet die Gentherapie. So ist es Forschern gelungen, ein Medikament mit dem Wirkstoff Golodirsen zu entwickeln, das die veränderten Abschnitte des Gen-Stranges überbrückt. „Damit erhöht sich die Menge an Protein, die den Muskelfasern zur Verfügung steht“, sagt Dr. Claudia Weiß, Expertin für Muskelerkrankungen an der Charité in Berlin. Einmal wöchentlich muss das Mittel per Infusion verabreicht werden.

Die Wirksamkeit des Medikaments bei Duchenne wurde drei Jahre lang in einer von Claudia Weiß geleiteten Studie untersucht. Finn hat daran teilgenommen. Die Ergebnisse seien vielversprechend. Heilbar ist die Krankheit damit zwar immer noch nicht, doch ihr Verlauf wird etwas gebremst – es ist ein Zeitgewinn. „Nun werten wir die Daten aus, was mindestens ein Jahr dauert. Dann stellen wir einen Antrag auf Zulassung, bis zu der meist ein weiteres Jahr vergeht“, sagt die Ärztin.

Für Finn dauert das alles viel zu lange. Mindestens weitere zehn Jahre werden Weiß zufolge noch vergehen, bis die Krankheit mittels Gen-Schere gestoppt werden kann. Bei diesem Crisp-Verfahren werde der defekte Teil des Gen-Stranges herausgeschnitten und repariert. Zukünftige Generationen könnten davon profitieren.

Ungewissheit zermürbt

Doch auch in der Gegenwart kann Kindern wie Finn schon geholfen werden. „Wir waren überglücklich, als unser Sohn 2021 in die Studie aufgenommen wurde. Doch da das Medikament noch nicht zugelassen ist, müssen die Krankenkassen nicht dafür aufkommen“, sagt der Vater. Laut Claudia Weiß sei es in solchen Fällen üblich, dass der Hersteller die Wartezeit überbrückt, indem er die Therapiekosten trägt. „Im Februar wurde uns das zugesichert – aber nur am Telefon. Dann tat sich Wochen gar nichts. Finn hätte längst seine nächsten Infusionen bekommen müssen“, sagt Norman Marx.

Dann der Lichtblick: Nach vielen Telefonaten habe ihnen ihre Krankenkasse die Kostenübernahme bis Ende des Jahres zugesichert, so Norman Marx. Ein Jahr Behandlung koste rund 850.000 Euro. Auch die Herstellerfirma versprach, weitere, über diese Zeit hinausgehende Kosten zu übernehmen. „Die Charité hat ihnen wohl Druck gemacht“, vermutet der Vater. Doch noch ist das Medikament nicht da. Es muss über die Niederlande bestellt werden. „Es dauert einfach alles so lange“, sagen die Eltern. „Aber Finn hat keine Zeit zu warten. Muskelgewebe, das zerstört ist, kann nicht wiederhergestellt werden.“

In seiner Sofaecke beim Spiel mit der Katze fühlt sich Finn am wohlsten. Da muss er mal nicht um jeden Schritt kämpfen.
In seiner Sofaecke beim Spiel mit der Katze fühlt sich Finn am wohlsten. Da muss er mal nicht um jeden Schritt kämpfen. © Matthias Rietschel

Die Familie kämpft schon, seit Finn vier Jahre alt ist gegen die Zeit. „Damals wurde die Krankheit festgestellt und hat unser Leben aus den Bahnen geworfen“, so der Vater. „Wir haben aber schon viel früher gemerkt, dass mit unserem Sohn etwas nicht stimmt“, sagt Mutter Franziska Marx. So habe er erst mit eineinhalb Jahren laufen gelernt. „Und auch das tat er extrem vorsichtig. Er musste sich bei Unebenheiten besonders anstrengen, um nicht hinzufallen“, sagt die 36-Jährige. Doch der Kinderarzt beruhigte sie zunächst. Doch auch mit drei Jahren besserte es sich nicht – im Gegenteil. „Ich habe auf eine genauere Untersuchung gedrängt“, sagt die Mutter.

„Nach unendlichen Wochen des Wartens erfuhren wir das Unfassbare: Finn hat Duchenne.“ Franziska Marx kämpft noch heute mit den Tränen, wenn sie davon erzählt. Denn da war nicht nur die Angst, ihr Kind zu verlieren, sondern auch, das alles gar nicht bezahlen zu können. Die vielen Therapien, die Finn benötigt, gibt es nicht am Ort. „Wir brauchten auch bald ein geeignetes Fahrzeug, wo ein Rollstuhl hineinpasst“, sagt der Vater. Für die Infusion fährt die Familie einmal wöchentlich nach Berlin in die Charité – hin und zurück eine Strecke von rund 300 Kilometern.

Zudem war ein Umzug nötig, denn die Familie wohnte im zweiten Geschoss eines Mietshauses. Ihr Sohn musste getragen werden und wurde mit der Zeit immer schwerer. Als sich Familienzuwachs Fiona ankündigte, kaufte die Familie ein Haus, das ihnen das Leben mit der Krankheit und zwei Kindern ermöglicht. Damit Finn so lange wie möglich selbstständig sein kann, muss alles behindertengerecht umgebaut werden. Der Umbau ist bis heute nicht abgeschlossen, es fehlt das Geld dafür.

Ein weiterer Kredit ist nicht möglich. Die aktuellen Raten bringen die Familie bereits an ihre finanzielle Grenze, wie die Eltern sagen. Ersparnisse seien nicht mehr vorhanden, auch Verwandte oder Freunde könnten nicht helfen. „Mein Mann hat fast alles in Eigenleistung gebaut – ein Glück, dass er das kann“, sagt Franziska Marx. Sie selbst kann nur 20 Stunden pro Woche arbeiten, um alle Therapien für Finn wahrnehmen zu können. Als Verkäuferin in einer Bäckerei bekommt sie Mindestlohn.

Angst um Arbeitsplatz

Der nächste Schicksalsschlag war die Kündigung für Vater Norman. „Ich habe als Sachbearbeiter in einem Krankenhaus ohnehin nicht sehr viel verdient.“ Es gebe bereits Termine für Vorstellungsgespräche. „Ich habe aber Angst, dass die Firmen ihr Angebot zurückziehen, wenn sie von unserem kranken Kind erfahren“, sagt er.

Nach einem Spendenaufruf hat die Familie einiges Geld zusammenbekommen. „Dafür sind wir sehr dankbar“, sagt der Vater. Doch die Kosten gehen weiter. Der Familienbus müsste dringend behindertengerecht umgebaut werden. Norman Marx: „Wir müssen einen Umbau auf eine elektrische Rollstuhlrampe vornehmen, da das Reinheben unseres Jungen nicht mehr möglich ist. Finn ist dafür zu schwer geworden.“ Er brauche auch einen Computer-Arbeitsplatz. „Das wird ja mal die einzige Möglichkeit sein, mit anderen in Kontakt zu sein“, so der Vater. Außerdem müssen die Schränke niedriger und rollstuhlgerecht sein. Ein Pflegebett mit Beatmungsmöglichkeit gebe es hoffentlich von der Pflegekasse. Wie hoch die Kosten für behindertengerechte Ausstattungen seien, könne man kaum nachvollziehen.

Wenig Unterstützung und große Schuldgefühle

Von Behörden und der Krankenkasse vermisste er in der Vergangenheit Verständnis und Unterstützung. „Wir haben einen elektrischen Rollstuhl beantragt, der abgelehnt wurde. Die Kasse war der Meinung, dass ein normaler Rollstuhl reicht. Doch im Gegensatz zu Querschnittsgelähmten hat Finn keine Kraft in den Armen. Er ist also weiter darauf angewiesen, dass ihn jemand schiebt“, sagt der Vater.

Für ihr Fahrzeug bräuchten sie das Merkzeichen aG für außergewöhnliche Gehbehinderung. Das berechtigt sie, auf Behindertenparkplätzen zu parken. „Doch der Antrag wurde immer wieder abgelehnt. Dabei wurde unser Sohn nicht einmal begutachtet. Alles erfolgt vom grünen Tisch aus“, sagt die Mutter verzweifelt. Die Konsequenz für sie sei, dass sie weitere Strecken zu den Therapieorten zu Fuß gehen muss – entweder mit dem Rollstuhl oder mit dem schweren Kind auf der Hüfte.

Das alles sind Dinge, die der Familie das Leben zusätzlich erschweren. Hinzu kommen die Schuldgefühle, ihrer Tochter Fiona vieles vorzuenthalten und sie in ihrer Entwicklung nicht gut genug unterstützen zu können, weil der behinderte Bruder einfach mehr Zuwendung und Zeit braucht. Doch damit ist die Familie Marx nicht allein. Solche Tiefpunkte kennen fast alle Angehörigen der Duchenne-Kranken.

So können Sie helfen

Es gibt etwa 800 verschiedene neuromuskuläre Erkrankungen. Einen Überblick über Symptome und Behandlungsmöglichkeiten gibt die Deutsche Gesellschaft für Muskelerkrankungen

Die häufigste Form davon ist die Muskeldystrophie mit den zwei Typen Duchenne und Becker.

Hilfe für Finn: Um dem schwerkranken Finn Marx so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, bittet die Familie um Unterstützung und Spenden. Spendenkonto: Kontoinhaber Norman Marx, IBAN: DE81 1805 5000 4200 0050 99, Verwendungszweck: Hilfe für Finn.