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Gesungene Sex-Klagen

Der Dresdner Beschwerdechor hatte am Sonnabend seinen ersten Straßenauftritt. Mit erstaunlich guter Laune und klaren Botschaften.

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Tobias Wolf

Der Liedtext hat es in sich. „Meine Partnerin ist so völlig inaktiv, hmm, hmm, hmmm“, singen die Männer unter den rund 25 Dresdnern vor der Frauenkirche mit Inbrunst. „Mein Freund will immer Sex, hmm, hmm, hmmm“, folgt sogleich der Konter der Chor-Frauen auf die erste Klage. Die mit Regenjacken bekleideten Greenpeace-Leute, die unmittelbar neben den Sängern Unterschriften für die Freilassung ihrer Kameraden in Russland sammeln, horchen auf. Was singen diese alten Leutchen da über Sex?

Die Umweltschützer sind nicht die Einzigen, die jetzt jeder Zeile des ersten Dresdner Beschwerdechors lauschen. Im Handumdrehen sind die Sänger umlagert. Die Senioren unter ihnen wippen im Takt mit den Füßen. Mittendrin und gar nicht alt singt Studentin Nina D. mit zarter Stimme den Refrain. Wer die 23-Jährige dabei anschaut, würde wohl nicht auf die Idee kommen, dass hier tatsächlich echte Beschwerden und Klagen vorgetragen werden. Mit einem Lächeln und aus allen Lebensbereichen und allen Stadtteilen. „Wer bitte zieht mit seiner Familie in die Neustadt über eine Bar“, ertönt es wieder unisono, „und regt sich dann auf, dass es zu la-a-a-a-aut ist.“ Diese Beschwerde verstehen sogar die Touristen im Publikum und lachen. „Ich hab so etwas noch nie gesehen“, sagt Anne Brosius aus Bad Kreuznach. „Dafür muss man wohl nach Dresden kommen.“

Derweil versucht Dirigent Santiago Blaum, den Chor im Takt zu halten. Auf und ab fuchteln seine Hände durch die kalte Morgenluft vor der Frauenkirche. Der 36-jährige Argentinier arbeitet normalerweise am Theater in Berlin und hat die Musik komponiert. „Ich fand die Idee toll, Beschwerden mal in einen anderen Zusammenhang zu setzen“, sagt er. Und auf ungewöhnliche Weise rüberzubringen. Die ge-sungenen Klagen haben die Chormitglieder zuvor aus 170 Beschwerdevorschlägen ausgewählt – ganz demokratisch. Ursprünglich stammt die Idee des Beschwerdechors aus Skandinavien und wurde danach zuerst in Großbritannien populär. Inzwischen ist der Trend auch nach Deutschland geschwappt: Hildesheim, Lübeck, Hamburg und nun auch Dresden.

Für die gebürtige Bremerin Nina D. gibt es aber offenbar gar nicht so viel Anlass zur Klage. „Beschwerden gibt es ja schon genug“, sagt die Studentin der Wirtschaftswissenschaften nach dem Auftritt. „Aber es fehlten Sänger, und ich wollte singen.“ Eine kleine Beschwerde hat sie dann trotzdem noch: „Als ich einmal nach Bukarest wollte, stellte ich fest, dass die Flüge viel zu teuer sind.“ Egal ob Geldmangel, Probleme mit der eigenen Bisexualität oder der unendliche Streit um die Waldschlößchenbrücke. Das Repertoire des Dresdner Beschwerdechors ist genauso vielfältig wie die Menschen in dieser Stadt. So auch die Reaktionen. Nach einer herzlichen Verabschiedung durch das Publikum an der Frauenkirche geht es weiter vors Karstadt-Kaufhaus an der Prager Straße. Dort ist die Zielgruppe des Hobby-Chors deutlich schwieriger zu erreichen. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Platz von Konsumtempeln aller Art eingeschlossen ist. Es bleiben trotzdem viele stehen – und wie ein kleines Dankeschön an die Sänger tanzen ein paar Kinder zum Rhythmus, den Dirigent Santiago Blaum vorgibt. Wann der Beschwerdechor seinen nächsten öffentlichen Auftritt hat, ist noch unklar. „Ich würde sehr gern wieder dafür nach Dresden kommen“, schwärmt der Chorleiter nach dem letzten Applaus auf der Prager Straße. „Die Sänger sind zwar alle keine Profis, aber unglaublich humorvoll und engagiert.“ Wer ihnen am Sonnabend zugehört hat, wird so manche Textzeile wahrscheinlich nicht so schnell vergessen. Vor allem die Klagen über mangelnden Sex oder zu viel davon, je nach geschlechterspezifischem Standpunkt.