Merken

Glücksland liegt irgendwo

Der deutsch-sorbische Autor Jurij Brezan, der vor 100 Jahren geboren wurde, hinterließ ein großes Erbe. Es macht nicht nur Freude.

Teilen
Folgen
NEU!
© akg-images

Von Karin Großmann

Die Tabakhändlerin gegenüber vom Postamt kann sich auch zehn Jahre nach Brezans Tod noch erinnern, welche Marke der Schriftsteller rauchte: Justus van Maurik. Die braune Schachtel mit Zigarillos liegt mit einigen Mundstücken im Sorbischen Museum Bautzen. Die Ausstellung wurde am Mittwochabend eröffnet und ist nur ein Teil der Feiern zum Hundertsten. Jurij Brezan wurde am 9. Juni 1916 im Räckelwitzer Krankenhaus geboren. Heute betreiben die Malteser dort einen Pflegedienst. An manchen Tagen sind nur die Autos der Pfleger unterwegs in den Lausitzer Dörfern. Über dem Land hängt ein letzter Hauch Gelb. Anderswo ist der Raps längst verblüht.

Beate Brezan, Schwiegertochter des Autors, hält den Wanderstab aus Ebenholz, mit dem der weise, zauberkundige Krabat durch die Welt ging. Brezans Ehefrau hatte die Roman-Requisite als Geschenk für ihren Mann nachbauen lassen. In den testamentarischen Brie
Beate Brezan, Schwiegertochter des Autors, hält den Wanderstab aus Ebenholz, mit dem der weise, zauberkundige Krabat durch die Welt ging. Brezans Ehefrau hatte die Roman-Requisite als Geschenk für ihren Mann nachbauen lassen. In den testamentarischen Brie © Wolfgang Wittchen

Die Dörfer heißen Schmeckwitz, Teichhäuser oder Höflein und sind unter ihren sorbischen Namen noch schwerer zu finden – obwohl sie in der Weltliteratur eine Rolle spielen. Horni Hajnk zum Beispiel, Dreihäuser. An diesem Ort liegen alte Konflikte begraben. Neue entstehen gerade.

Beate Brezan öffnet den Kofferraum und trägt Kisten mit Geschirr in die Garage für die Geburtstagsfeier. Die 53-jährige Schwiegertochter des Autors und ihre drei Kinder haben ein schönes, aber schwieriges Erbe angetreten. Brezan hat es ihnen schriftlich gegeben, nicht in Deutsch, sondern in Obersorbisch. Eine gleichmäßige Handschrift auf liniertem Papier. Dem Datum nach hat er in dem kleinen weißen Haus mit den rötlichen Schindeln mehrere Tage an den testamentarischen Briefen gearbeitet. Seiner Schwiegertochter Beate vererbte er das silberne Essbesteck und wünschte ihr „eine große Handvoll Glück“.

„Er hat hier für uns gelebt und bis zuletzt geschrieben“, sagt sie und kennt auch die letzten zwei Worte: „Und plötzlich …“ Es tut ihr leid, sagt Beate Brezan, dass dieses Blatt mit nach Marbach ging. Das Deutsche Literaturarchiv kaufte Brezans schriftliche Hinterlassenschaft. Unter mehr als tausend bedeutenden Literaten aus Deutschland ist er dort der erste Sorbe. Das war ihm wichtig. Er wollte dazugehören. „Die Weltgeschichte wüsste nichts von den Dörfern an der Satkula, hätte nicht Krabat hier gelebt“, heißt es über den sagenhaften Zauberer im Roman, in dem Jurij Brezan sich selbst in mehreren Rollen porträtierte.

Das Museum zeigt signierte Romane, Kinderbücher und Übersetzungen, eine chinesische Ausgabe von „Rifko“, reizender Report eines Dackels, der aus Urheberrechtsgründen nicht Kifko heißen durfte wie das Original. Die Marderfellmütze, in der Rifko heimisch wurde, liegt im Raum hinter dem Arbeitszimmer in Horni Hajnk.

Weder die Museumsleute noch die Wissenschaftler vom Sorbischen Institut waren erfreut, als Brezans Erbe in den Westen ging. Zumal der Westen Brezan lange weitgehend ignorierte. Eine Hymne für Stalin, Sympathiebekundungen für die frühe DDR, die langjährige Vizepräsidentschaft im Schriftstellerverband, der Nationalpreis, es gab Gründe. Der Stempel „Systemnähe“ erklärt nicht alles. Ignoranz wächst auch aus Nichtwissen und Vorurteil.

Jurij Brezan war Vorzeigesorbe vom Dienst und Amateurwelterklärer und quittierte solche Zuschreibungen mit spöttischem Lächeln. Skeptisch war er ohnehin, und das nahm mit den Jahren zu, begründet im politischen Gang der Dinge. Hatte er nicht angeschrieben gegen das Entweder-Oder zwischen Gut und Böse und für verträgliches Miteinander geworben? Hatte er nicht früh gewarnt, dass zur Macht neben dem Wissen vor allem die Vernunft hinzukommen sollte? Hatte er nicht die Vergötterung von Geld, Besitz und Konsum kritisiert? Wer hört denn auf Schriftsteller. Und dabei sprach Brezan doch mit einer so wohlklingenden Stimme, dass selbst eine Binsenweisheit eher wie Weisheit klang und wenig wie Binse. Er arbeitete jedenfalls nicht mit der „Rodehacke der Eiferer“.

Als erster Sorbe veröffentlichte er 1951 ein Buch in deutscher Sprache. Er wurde als Verräter beschimpft und hat doch damit die sorbische Literatur für deutsche Leser geöffnet. In den Lehrplänen sorbischer Gymnasiasten kommt Jurij Brezan noch gelegentlich vor. Bis zum Ende der DDR war er ein dreifacher Auflagenmillionär.

Annett Scholze von der Smoler’schen Buchhandlung in Bautzen sagt: „Wer etwas über uns Sorben erfahren will, sollte ,Bild des Vaters’ lesen, hier seht ihr uns am authentischsten. Und trotzdem erzählt der Roman viel Allgemeingültiges.“ In den letzten zehn Lebenstagen eines alten Mannes, der Brezans Vater war, wird die Frage verhandelt: „Was aber ist das, in Würde durch das Leben zu gehen?“ Der Roman wurde der größte Verkaufserfolg des Autors. Die drei Glaskrüge mit Goldrand im Museum spielen in dem Buch eine Rolle.

Horni Hajnk liegt „fünf Kornhalme hoch über dem Bach“. Brezans Schreibtisch sieht aus, als hätte er ihn nur für einen Gang durch den Garten verlassen, um nach den Apfelbäumen zu sehen oder weit hinüber zum Feld, das seine Vorfahren beackert haben. Zwei braune Pferde stecken die Köpfe zusammen. Frösche lärmen am Teich. Brezan schreibt, dass sich in seinem Erzählen Wirklichkeiten übereinanderschieben wie Seerosenblätter und wirken wie ein einziges Blatt. Die Seerosen blühen weiß. Sanft landet ein Kranich.

Jurij Brezan stammt aus einem Kleinbauernhaushalt, der Vater war Steinbrecher, die Mutter Magd, und dann pflegt der Sohn Kontakte zu den höchsten Männern im Staat. Eine solche Karriere kann schwindlig machen, nachzulesen beim Bäckersohn Erwin Strittmatter. Sie hatten manches gemeinsam: das Lausitzer Hinterland, die bildhafte Sprache und eine gewisse Überlebenslist. „Brezan hat sich seine Zeit zunutze gemacht“, sagt Andrea Paulik vom Sorbischen Museum. „Er war nicht mutig, aber immer stärker als seine Furcht“, so der Autor über den Autor. „Ich ging meinen Weg und legte mein Fünkchen der blinkenden Hoffnung hinein.“

Auf dem Schreibtisch in Horni Hajnk liegt ein linierter Block, immer 29 Zeilen mit Platz dazwischen für Korrekturen. Daneben Kugelschreiber, zwei Brillen, ein Papierlocher und eine Uhr mit schwarzem Lederband. Die Zeiger stehen auf viertel zehn. Drei Becher mit Stiften. Ein schmaler Brieföffner aus Elfenbein. Eine Mundharmonika. Brezan konnte sie spielen. In der oberen rechten Schreibtischecke stapeln sich drei hellblaue Plastikfächer als Ablage. Obenauf die Einladung zu einem Gespräch in der Berliner Akademie der Künste. Brezan wurde bei Schneewetter am 17. März 2006 um 16 Uhr beerdigt. 19 Uhr begann die Akademie. Sein Grabstein steht an der Friedhofsmauer in Ostritz. In der katholischen Kirche war er getauft worden.

Aus einem Bilderrahmen auf dem Schreibtisch schaut Ehefrau Ludmila mit einem Lächeln, das mild wirkt und nachsichtig. Brezan mochte die Frauen, es gab wohl auch „Leutegerede“, wie er Gerüchte nannte. Auf dem Ostritzer Friedhof liegt Ludmila Brezan in einem Grab mit dem einzigen Sohn Simon. Sie starb 1993, er 1998. „Diesen frühen Tod hat der Vater nie verkraftet“, sagt Schwiegertochter Beate Brezan. „Er hat ihn verdrängt, und wir wissen ja, dass Verdrängen hilfreich sein kann.“ 1998 ist das Jahr, in dem Jurij Brezan die testamentarischen Briefe schrieb.

In den Regalen seines Arbeitszimmers stehen Kristallvasen, Zinnkrüge und Keramikfiguren, ein rundliches Holzpaar von Lothar Sell, eine getöpferte Frauenfigur als Kerzenständer. Der Autor notierte genau, wem er was zugedachte: dem Lehrer Tomas eine der bauchigen Tonvasen, einer Christina die Bernsteinkette. Der Hauptteil aber ging an die drei Enkel. Sie sollten sich zu je einem Drittel in sein Geld und die Erträge des literarischen Werkes teilen. Franciska sollte zudem den Schmuck der Großmutter erhalten, Beno die goldene Taschenuhr, Florian die Manschettenknöpfe und den Krabatstab. Für den Konfliktfall setzte Brezan hinzu: „Beno und Florian dürfen untereinander tauschen.“

Der Konflikt liegt im anderen Teil des Vermächtnisses: „Ihr lieben drei, ich bitte euch sehr, dass ihr irgendeinen Modus für H. H. findet: damit es euer bleibt, keinem Fremden überlassen wird und dass mein Arbeitszimmer eine kleine Gedenkstätte wird.“ Im Brief an die Schwiegertochter bekräftigt er diesen Wunsch für Horni Hajnk.

Beate Brezan war eine 15-jährige Gymnasiastin, als sie den Autor kennenlernte. Jetzt geht sie durch seinen großen Garten, der regelmäßig gemäht werden muss, beschnitten und gepflegt. Die Rotbuche hat es mit ihrem elefantenfußdicken Stamm ebenso in die Literatur geschafft wie die Kinderbadewanne im Gras. Als Bänke stehen zwei brüchige Holzstämme unter hohen Birken. Der Mann in den Birken, so hat Brezan seinen Namen übersetzt. Ein poetischer Philosoph und philosophischer Poet. Sechseinhalb Jahre schrieb er an seinem Hauptwerk „Krabat oder Die Verwandlung der Welt“. Und keine Enttäuschung beim Wiederlesen, im Gegenteil.

Am Wochenende wird Beate Brezan Kinderzeichnungen zu den Geschichten auf eine Leine im Garten hängen, sie wird erzählen, wie sie es immer mal tut für Schulklassen oder Lehrergruppen, und danach wird sie die Räume putzen. Aber nach dem Hundertsten, wenn alles vorbei ist, sagt sie, werden sie in der Familie beraten, wie es weitergehen soll in H. H. mit dem leer stehenden Haus.

„Verkaufen? Niemals!“, sagt Brezans Enkel Beno. Er hat für den Großvater einen Internetauftritt eingerichtet mit biografischen Notizen und Werkverzeichnis. Er hat auch das rote Säckchen bekommen, das an den Ältesten in der Familie weitergereicht wird, seit Marja aus der Alten Ziegelscheune 1840 als Dienstmädchen nach Dresden ging und später vom russischen Gesandten ein Kind bekam. Die Goldmünzen, die jener Graf zahlte, hob Marja in dem Säckchen auf und gab es ihrem Enkel. Das war Brezans Vater. Er gab es dem Sohn weiter. „Nun habe ich selbst etwas in den roten Beutel dazugelegt“, schreibt Jurij Brezan in einem seiner testamentarischen Briefe. Goldmünzen sind es nicht, wie das Beutelchen im Museum zeigt.

Zu sehen ist der schwere Stab aus Ebenholz, von dem es heißt, dass die Geschichte von Adam und Eva eingeschnitzt war, die Schlange der Neugier und der Baum der Erkenntnis. Krabat ging damit das Glücksland suchen, denn „wenn es das Wort gibt, gibt es auch das Land“. Brezans Ehefrau hatte den Krabatstab als Geschenk für ihren wortgläubigen Mann fertigen lassen. Mühelos konnte der Autor biblische Geschichte, Lausitzer Mythen und Hänsel und Gretel in einem Satz unterbringen.

Davon wird in Horni Hajnk manchmal erzählt, doch eine Gedenkstätte braucht mehr als den guten Willen. Sie braucht Zeit, und daran fehlt es Brezans Schwiegertochter Beate. Sie leitet das Witaj-Sprachzentrum in Bautzen. Die drei Enkel leben weit weg in anderen Städten. Deshalb sollen künftig einige Erbstücke im Krabathof in Schwarzkollm zu sehen sein. Der Schriftsteller bekommt dort ein eigenes Zimmer.

In der Smoler’schen Buchhandlung liegt ein Tisch voll nur mit Titeln von Jurij Brezan. Die Buchhändlerin Annett Scholze will das Werk möglichst komplett anbieten. Was fehlt, kauft sie antiquarisch dazu. „Weil es selbstverständlich ist.“ Andrea Paulik vom Sorbischen Museum hofft, dass sie irgendwo noch die Münze entdeckt, von der Brezan erzählte, dass sie im Krieg einen Schuss abhielt und ihm so das Leben gerettet hat. Die Schwiegertochter Beate Brezan arbeitet abends zu Hause in der Bautzner Westvorstadt, wo Jurij Brezan zunächst mit seiner Familie wohnte. Den Park vorm Haus und den Bahndamm hat er im Kinderbuch „Der Elefant und die Pilze“ beschrieben. Feine Nasen können vielleicht noch den Zigarillorauch riechen.