Görlitz
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Was Leser zu Weihnachten erzählen: Schweigende Glocken

Siegfried Stahn sollte als junger Geselle die Glocken der Kreuzkirche reparieren - am Heiligabend. Doch das Problem wog schwer.

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Oft, wenn SZ-Leser Siegfried Stahn an der Kreuzkirche in Görlitz vorbeigeht, muss er an ein zugiges Erlebnis an einem Heiligabend denken.
Oft, wenn SZ-Leser Siegfried Stahn an der Kreuzkirche in Görlitz vorbeigeht, muss er an ein zugiges Erlebnis an einem Heiligabend denken. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die SZ hatte Görlitzer Leser gebeten, ihre Geschichte unter dem Motto "Mein schönes Weihnachten" aufzuschreiben und uns zu schicken. Einige Leser haben das getan und lassen hier SZ-Leser daran teilhaben.

Siegfried Stahn aus Görlitz erzählt: Weihnachten, Mitte der 1950er-Jahre: Ich hatte gerade ausgelernt. Heiligabend wurde damals noch bis Mittag gearbeitet. Gegen 11.30 Uhr saßen alle in der Werkstatt in der Löbauer Straße 5 und warteten auf Semmel, Bockwurst und die Tasse Kakao. Da kam unser Meister Wiesner, wir nannten ihn respektvoll Max, er gesellte sich zu uns. "Die von der Kirche haben gerade angerufen, in der Kreuzkirche ist das Geläut ausgefallen." Er hatte Hilfe zugesagt, na prima, betretenes Schweigen.

Max entschied: "Siegfried, du fährst!" Ich sei ja noch ledig und hätte keine Familie.

Ein schreckliches Geläut

So war es zwar nicht, denn meine Eltern und mein Bruder waren meine Familie. Aber ich war jung und der Meister noch eine Respektsperson. Also ging es mit Werkzeugtasche und Fahrrad ab in die Kreuzkirche. Pfarrer Seibt empfing mich. Viel konnte er mir auch nicht sagen, nur, dass das Geläut sich schrecklich anhört und er zwei Gottesdienste abhalten müsse.

Es war kalt, meine Kleidung unzweckmäßig. Auf der oberen Plattform des Turms der Kreuzkirche zog es wie Hechtsuppe. Die Tauben gurrten. Die Fehlersuche dauerte. Der erste Gottesdienst musste ohne Geläut verlaufen. Der Pfarrer schickte Frau Pfarrerin hoch, um mir seinen Unmut mitzuteilen. Aber die Frau hatte wohl Mitleid mit mir auf dem zugigen Kirchturm und versorgte mich mit heißem Tee.

Der Vater war besorgt

Dann hatte ich einen Fehler gefunden, der ohne Ersatzteil zu beheben war. Aber auch so etwas dauert. Es stellte sich noch ein zweiter Fehler heraus, der wohl die eigentliche Ursache war und nicht zu beheben war. Zumindest nicht ohne Weiteres. Ich musste aufgeben.

Doch dann staunte ich nicht schlecht, mein Vater stand plötzlich hinter mir auf dem Kirchturm. Als ich nach vier Stunden noch nicht zu Hause war, war er besorgt. Er war von der Augusta-Straße auf die Jauernicker Straße zu Meister Wiesner gelaufen, der dort wohnte. Der war zwar ebenfalls erstaunt, konnte meinem Vater aber berichten, wo ich wahrscheinlich sei.

Den heiligen Nachmittag hatte ich frierend überstanden. Am Abend war ich so weit wieder aufgewärmt, dass der "Heilige Abend" für mich in Familie doch noch stattfinden konnte. Der Pfarrer aber hatte sich nicht blicken lassen. Sicher war er unzufrieden, dass es mir nicht gelungen war, das Geläut zu reparieren. So ist das eben manchmal im Leben. Und oft, wenn ich an der Kreuzkirche vorbeigehe, muss ich daran denken, wie ich damals auf dem Kirchturm gefroren hatte und meine Familie mich dafür mit einer ganz besonderen Art von Wärme beschenkte - mit Herzlichkeit und Familiensinn.