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Görlitzer Landrat im SZ-Interview: „Die Proteste verändern Politik schrittweise“

Bauernproteste, ÖPNV-Streik, Debatten um Standorte neuer Asylheime, Umbau der Krankenhäuser im Kreis Görlitz - es kommt gerade ganz schön viel zusammen. Und Wahlen sind ja dieses Jahr auch noch. Zeit für ein Gespräch mit Landrat Stephan Meyer.

Von Sebastian Beutler
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Auch vor den Demonstranten gegen das beabsichtigte Asylheim in Hirschfelde drückte sich Landrat Stephan Meyer nicht und sprach zu ihnen.
Auch vor den Demonstranten gegen das beabsichtigte Asylheim in Hirschfelde drückte sich Landrat Stephan Meyer nicht und sprach zu ihnen. © Rafael Sampedro/foto-sampedro.de

Herr Meyer, Sie hatten Anfang des Jahres angekündigt, verstärkt das Gespräch mit verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen, die auch mit der Politik nicht mehr einverstanden sind, vielleicht auch mit Ihnen persönlich. Wie weit sind Sie dabei gekommen?

Ich habe mit Teilnehmern der Bauernproteste gesprochen, an denen sich längst nicht mehr nur Landwirte, sondern auch der Mittelstand beteiligt und Menschen, die grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen im Land und der Politik, vorrangig von Bund und Land, äußern. Dort habe ich nicht nur Landwirte getroffen, die im Bauernverband organisiert sind, sondern auch in der Vereinigung „Land schafft Verbindung“. Zudem pflege ich einen engen Kontakt zu den Unternehmerverbänden, weil ich dort eine größere Breite der Wirtschaft über die Kammern hinaus finde, bis hin zum Einzelunternehmer. Bei all diesen Treffen ist es wichtig, die Politik zu erläutern. Beispielsweise auch die Neustrukturierung unserer Krankenhäuser. Die Erklärung ist nicht nur gegenüber den direkt Betroffenen nötig, da haben wir viel gemacht, der Personalrat des Krankenhauses hat uns das auch bestätigt. Auch die Bürgerschaft erwartet zu Recht Antworten.

Was erfahren Sie bei diesen Treffen, was Ihnen sonst nicht gesagt wird?

Für mich ist es wichtig, die Sicht der Betroffenen zu hören und Neues über die konkreten Auswirkungen zu erfahren. So war bei der Krankenhausreform für mich das Gespräch mit dem Rettungsdienst wichtig, weil ich diese Sicht als Träger eines Krankenhauses nicht außen vor lassen kann. Da geht es um längere Wege für den Rettungswagen beispielsweise, ehe sie eine Notfallambulanz erreichen, wenn die in Ebersbach im Süden wegfällt. Deswegen habe ich dann gesagt, wir ändern nichts, bevor es keine Klarheit für den Rettungsdienst gibt. In diesen Einzelgesprächen werde ich auf Aspekte hingewiesen, die ich als Landrat und damit im Alltag als Chef einer Verwaltung mit in den Blick nehmen möchte.

Die Bauern sind eine Gruppe, die Wirtschaft auch, müssten Sie vielleicht auch stärker mit Sozialverbänden, Gewerkschaften und linken Gruppen das Gespräch suchen?

Ich bin regelmäßig mit der Arbeitsgemeinschaft der Paritätischen Wohlfahrtsverbände zusammen, wo die Organisationen von Johanniter über DRK bis ASB alle dabei sind. Ich habe den Eindruck, dass vor meiner Zeit die Kommunikation hier nicht so gepflegt wurde. Ich habe auch zur Lausitzer DGB-Chefin einen guten Draht. Das heißt aber nicht, dass wir immer einer Meinung sind. Nehmen Sie die momentanen Tarifforderungen. Wenn alle die Vier-Tage-Woche wollen oder 20 Prozent mehr Lohn, muss das der Steuerzahler ja zuvor erst einmal erwirtschaften. Und personell wollen wir ja auch die Versorgung gewährleisten, unsere Brötchen beim heimischen Bäcker am Wochenende kaufen oder die Pflege sicherstellen. Die Demografie zwingt uns eigentlich dazu, das Gegenteil zu machen, mehr zu arbeiten.

Im Moment geht es ja vor allem darum, wie man auf der Schiene oder mit dem ÖPNV von A nach B kommt.

Ich habe durchaus Verständnis für die Tarifforderungen. Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen. Wenn ein Polizist in München zwar für Sicherheit sorgen soll, in der Stadt aber keine bezahlbare Wohnung findet, passt irgendwas nicht zusammen. Insofern verstehe ich auch die Forderungen, dass ein Busfahrer im Kreis Görlitz von seinem Einkommen leben können muss. Aber wenn die Forderungen zu weit gehen, dann zwingt uns das möglicherweise zu Gegenreaktionen, die auch keiner will. Beispielsweise indem wir Strecken einstellen müssen, weil wir als Kommunen sie nicht mehr finanzieren können. Das müssen die Tarifpartner mit berücksichtigen.

Überall ist Streik und Streit, der Bürger fragt sich, worauf und wem kann er noch vertrauen. Bräuchte es von Ihnen nicht auch eigene Formate, um die Bürger zusammen- und in den Austausch zu bringen, als nur Reden zu halten über aufgeregte, im Zweifel trommelnde oder brüllende Menschen hinweg?

Ich glaube, wie brauchen mehr Bürgerbeteiligung, bevor Entscheidungen fallen. Im Wahlkampf habe ich die Bürgerräte in Görlitz kennengelernt. Es ist klug, solche Gremien zu schaffen und zu beteiligen, ehe die Stadträte, Gemeinderäte oder die Kreisräte als gewählte Vertreter der Bürger entscheiden. In Bürgerräten oder Entwicklungsbeiräten können Themen diskutiert werden, können sich die Bürger einbringen. Mancher will gar nicht in einen Stadt- oder Gemeinderat, weil er nur an einem Projekt Interesse hat. Das kann ein neues größeres Windrad sein oder eine neue Schule. Und da will er mitsprechen. Ein schönes Beispiel auf Landesebene ist der soeben verabschiedete Masterplan Tourismus. Über Monate haben die Betroffenen in zig Workshops zusammengesessen. Nun liegt ein breit getragenes Strategiepapier vor.

Aber das funktioniert ja nicht immer, ich erinnere an die Auseinandersetzung um die Asylheime im Landkreis, wo die Betroffenen den Eindruck hatten, dass über sie hinweg entschieden wurde. Ist die Politik im Kreis mitunter einfach zu weit vom Bürger entfernt?

Die Unterbringung von Asylsuchenden habe ich mir nicht ausgesucht. Als Chef der Landkreisverwaltung muss ich umsetzen, was gesetzlich vorgegeben ist. Für das Thema Unterbringung werde ich vermutlich nirgendwo in Deutschland Gemeinden finden, die begeistert „Hier“ schreien, wenn ein Asylheim bei ihnen eingerichtet werden soll.

Aber es gibt schon Akzeptanzunterschiede. In Görlitz ist das neue Asylheim kein Thema.

Das können Sie nicht vergleichen. Es ist ein Unterschied, ob Sie in einer Stadt mit 57.000 Einwohnern 60 Asylsuchende unterbringen oder ob ich in einen Ort mit 500 Einwohnern 150 Geflüchtete bringe. Zudem sind die Gesellschaften in Görlitz und in Zittau aufgrund der Größe der Städte, auch der Hochschule, internationaler. Deswegen haben wir ja grundsätzlich auch entschieden, dass Heime in Ebersbach oder in Hirschfelde zeitlich begrenzt beständen hätten. Trotzdem ist es anders gekommen. Ich bin dem Zittauer Stadtrat dankbar, dass er mehrheitlich gesagt hat, wir sehen die Bedingungen für ein Heim in Hirschfelde als nicht gegeben an, aber wir tragen dazu bei, dass wir der Aufgabe im Stadtgebiet Zittau nachkommen. Deswegen haben wir auch entschieden, wir gehen weg von der Flachsspinnerei und stocken die Kapazitäten anderswo auf.

Warum treibt das Thema Migration die Leute so um?

Es ist eine augenscheinliche Diskrepanz, die die Menschen umtreibt. Auf der einen Seite fehlen Ärzte und Lehrer, der Kreis kann kaum seinen Pflichtaufgaben nachkommen, Städte und Gemeinden können viele Wünsche der Bürger nicht verwirklichen, und auf der anderen Seite muss der Kreis Menschen unterbringen, obwohl Deutschland vermeintlich nicht genügend Geld hat, um die Kommunen so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können. Wenn wir alle Ideen der Bürger umsetzen könnten, dann wäre Asyl nicht so ein Problem.

Häufig hört man den Vorwurf, die Politik lasse Themen und Probleme zu häufig und zu lange links liegen, nur die AfD habe keine Scheu, die Probleme der Menschen aufzunehmen. Ist die Ankündigung, das Gespräch verstärkt mit den Bürgern zu suchen, auch eine Reaktion darauf, wieder stärker den Puls der Menschen zu fühlen und zu sehen und zu hören, was sie bewegt?

Ich meine, wir haben kein grundsätzliches Erkenntnisproblem. Ich denke, dass wir auf allen Ebenen wissen, was die Themen der Menschen sind. Aber wir haben ein Umsetzungsproblem. Es dauert alles viel zu lange. Die Fördermittelvereinfachungskommission in Sachsen, wenn ich das Gremium mal so nennen darf, hat viele gute Dinge auf den Tisch gebracht, um effizienter und klüger Förderprogramme aufzustellen, aber es hat ein Jahr gedauert, ehe das Kabinett darüber befunden hat. Auch das Thema Bezahlkarte ist so ein Punkt. Die Mehrheit der Leute sagt, es muss darum gehen, die Menschen, die hierherkommen, anständig zu versorgen, aber nicht, dass es Missbrauchsmöglichkeiten gibt. Ein Teil der Geflüchteten transferiert Gelder ins Ausland. Da muss eben so eine Bezahlkarte dafür sorgen, dass Menschen anständig versorgt werden, aber der Missbrauch unterbunden wird. Trotzdem hat die Regierung in Berlin tagelang darüber gestritten.

Gibt es denn Zahlen, wie viel Geld von Geflüchteten aus dem Kreis Görlitz ins Ausland transferiert wird?

Kontobewegungen gehen mich nichts an, aber de facto ist es so. Die Menschen werden im Zweifelsfall hierher geschickt und versorgen dann die Familie in der Heimat.