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Holocaust-Gedenken: Sehen wir in den ermordeten Juden "unsere eigenen Leute"?

Görlitz hatte einst eine große jüdische Gemeinde, es waren Ärzte, Unternehmer und Geschäftsinhaber. Manche konnten sich retten, viele wurden ermordet. Ihre Nachfahren leben wieder in Schrecken. Ein Gastbeitrag.

Von Frank Seibel
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Ein mittlerweile gewohntes Bild auch in Görlitz: Polizeischutz für das Kulturzentrum Görlitzer Synagoge.
Ein mittlerweile gewohntes Bild auch in Görlitz: Polizeischutz für das Kulturzentrum Görlitzer Synagoge. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Die Frage nach Sinn und Wirkung solcher Gedenkveranstaltungen kommt mir in den vergangenen Monaten neu in den Sinn. Und das hat etwas mit dem 7. Oktober 2023 in Israel zu tun.

Offizielle Gedenkveranstaltungen wie am Holocaust-Gedenktag oder am Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938 greifen auf Rituale zurück, die uns von Beerdigungen vertraut sind. Wir legen Kränze ab, verneigen das Haupt vor den Opfern. Dieses Gedenken im Land der Täter ist der Versuch, nachträglich die Würde der Ermordeten wiederherzustellen.

Es ist eine Geste des Respekts. Sie kann naturgemäß nicht erwidert werden. Opfer sind passiv. In gewisser Weise setzt auch das gut gemeinte Gedenken das Machtverhältnis zwischen Tätern und Opfern fort: hier die Handelnden, dort die Behandelten – vielmehr die Misshandelten. Diese Asymmetrie lässt sich nicht auflösen, wenn die Nachfahren der Täter an die Opfer erinnern. Und doch lässt sich eine entscheidende Größe verändern: die Nähe beziehungsweise die Distanz zu den Opfern, derer wir gedenken.

Fehlt uns die Trauer?

Frank Seibel ist beim Görlitzer Kulturservice auch für das Kulturzentrum Görlitzer Synagoge zuständig.
Frank Seibel ist beim Görlitzer Kulturservice auch für das Kulturzentrum Görlitzer Synagoge zuständig. © Paul Glaser

Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass der eingeübten Trauersymbolik das Entscheidende fehlt: die Trauer. Damit meine ich nicht eine ehrlich empfundene Traurigkeit darüber, was Menschen anderen Menschen angetan haben; Traurigkeit darüber, dass Menschen zu so etwas fähig sind. Nachdenklichkeit und das ehrliche Bekenntnis zur eigenen Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft gibt es gewiss.

Was ich mich frage: Empfinden wir dieselbe Art von Trauer, die uns üblicherweise bei Beerdigungen befällt? Das ist jene Trauer, die unser eigenes Leiden beschreibt, den Schmerz, den wir empfinden, weil wir jemanden verloren haben. Das ist eine Trauer, die mit Liebe und Empathie zu tun hat. Es ist die Trauer, die ausdrückt: Es ist ein Stück von mir selbst verloren gegangen; mein Leben ist in diesem Moment des Abschieds ärmer geworden.

Ich halte das für eine entscheidende Frage: Erinnern wir uns heute an unsere „eigenen Leute“? Oder denken wir mit schlechtem Gewissen daran, dass unsere Großeltern oder Urgroßeltern zwar etwas Schreckliches getan haben – aber doch eher an Fremden?

Die Sächsische Zeitung hat über bislang unbekannte Fotos berichtet. Diese Bilder zeigen Breslauer Juden vor ihrer Deportation nach Auschwitz. Der Massenmord im Vernichtungslager hatte zwar schon begonnen, aber es kursierten keine Erzählungen darüber. Die Szene in einem Biergarten zeigt Menschen, die zwar müde und besorgt sind. Doch noch ahnen sie nicht, dass sie auf ihre Reise in den Tod warten. Es sind ganz normale Menschen aus einer ganz normalen Stadt, die auf den heimlich gemachten Fotos zu sehen sind. Leute wie Sie und Ihr und ich. Leute, die man vermissen müsste, wenn sie nicht mehr da sind.

Für die jüdischen Mitbürger war Görlitz vor 1933 ihre Heimat

Das Kulturforum Görlitzer Synagoge ist ein Ort, der einlädt, genau dieses Gefühl des Verlustes entstehen zu lassen. Der imposante Kuppelbau zeugt in all seiner Pracht vom Leben und der Kultur Görlitzer Juden. 1911 wurde die Neue Synagoge geweiht. Sie war ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Görlitzer Juden sich hier sicher und zu Hause fühlten. Görlitz war ihre Heimat.

Ein Besuch in diesem Haus mit seiner Dauerausstellung und den Filmen über die Juden von Görlitz kann die Fantasie anregen und Fragen aufwerfen: Wer mögen diese Menschen gewesen sein? Und wie waren sie? Diese ehemalige Synagoge lädt Besucher ein, sich die Jüdische Gemeinschaft und die individuellen Persönlichkeiten in einem guten Sinn „zu eigen“ zu machen: Das waren Görlitzer mit Leib und Seele; Nachbarn, Freunde, Kollegen …

Im Juni vorigen Jahres haben uns 60 Nachfahren jener jüdischen Frauen und Männer besucht, die vor 100 Jahren glaubten: Hier ist unsere Heimat; hierher gehören wir. Danke, liebe Lauren Leiderman, dass Du diese Jüdische Gedenkwoche in Görlitz organisiert hast! Es kamen Menschen aus den USA, Australien, Brasilien, natürlich auch aus Israel. Es waren Menschen, deren Eltern oder Großeltern damals dem Holocaust entkommen konnten.

Eine Woche lang haben wir diese Frauen und Männer erlebt; haben sie lachend gesehen, nachdenklich, traurig – und einige regelrecht mit Heimweh nach Görlitz. In vielen Anekdoten und Erinnerungen wurden die Vorfahren lebendig: die Großtante mit dem Laden in der Elisabethstraße, der Onkel, der ein begnadeter Turner war; die Eltern, die regelmäßig ins Theater gingen; der Großvater, der Unternehmer war und zu denen gehörte, die den Bau dieser Synagoge ermöglichten. Bilder wurden gezeigt. Und es wurde gesungen und gelacht.

Und irgendwann wurde es spürbar: Wie traurig, dass es diese Menschen in unserer Stadt nicht mehr gibt; was haben wir dadurch verloren, dass unsere Vorfahren diese Menschen schikaniert, verfolgt und sehr viele von ihnen ermordet haben!

Juden vermissen nach dem Massaker vom 7. Oktober Nähe und Solidarität

Nach dem Massaker der Hamas-Terroristen an 1.200 Israelis am 7. Oktober 2023 haben uns Nachrichten von Menschen erreicht, mit denen wir im Juni in Görlitz etliche Stunden verbracht hatten. Eine Familie, die im Juni bei uns in Görlitz war, hat bei den Pogromen ihr Zuhause und all ihr Hab und Gut verloren; andere trauern um Freunde und Verwandte, die an diesem 7. Oktober ermordet wurden.

Für mich war und ist dieser 7. Oktober 2023 nicht fern. Durch die Begegnungen mit den „Görlitz Cousins“ wenige Monate zuvor, aber auch durch persönliche Freundschaften in Israel erzählten die Nachrichten nicht nur abstrakt von einem schrecklichen Ereignis irgendwo in der Welt. Ich denke an die Görlitzer Synagoge als einem Heimat-Symbol der Juden in unserer Stadt. Hätten wir ihnen diese Heimat gelassen, wären Juden in Deutschland willkommen gewesen, dann hätten sie sich keinen Schutzraum in Gestalt des Staates Israel suchen müssen.

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Wir gedenken hier heute der Opfer des Holocaust. Halten wir sie aber nicht zugleich auf Distanz? Juden, die heute in Deutschland leben, vermissen seit den Massakern vom 7. Oktober Nähe, Solidarität. Mitgefühl, weil die meisten von ihnen Freunde und Verwandte in Israel haben, die vom Terror der Hamas betroffen sind. Solidarität, weil Israel per se bedroht wird und sich als sehr verwundbar erwiesen hat.

Vielleicht ist das die besondere Herausforderung an diesem Tag: Sehen wir in den Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, nicht nur passive Opfer und keine Fremden. Sehen wir sie als Menschen, die zu uns, zu Görlitz und zu Deutschland gehörten; als Menschen, die uns bitter fehlen.

Frank Seibel ist seit Sommer 2022 beim Görlitzer Kulturservice für die Spielstätten verantwortlich, darunter auch für das Kulturzentrum Görlitzer Synagoge. Den leicht gekürzten Text trug er bei der offiziellen Gedenkveranstaltung der Stadt Görlitz am 27. Januar am Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Wilhelmsplatz vor.