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Zittauer Kunstausstellung: Ein Jahrhundert wird besichtigt

Weit über 100 abstrakte Kunstwerke sind derzeit in Zittau zu sehen. Viele stammen aus Görlitzer Museen. Das hat Gründe.

Von Sebastian Beutler
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Zu den farblich eindrucksvollsten Kompositionen gehören die Porträts des Bischofswerdaer Künstlers Carl Lohse, von dem auch die Büste vom Schriftsteller Ludwig Renn stammt.
Zu den farblich eindrucksvollsten Kompositionen gehören die Porträts des Bischofswerdaer Künstlers Carl Lohse, von dem auch die Büste vom Schriftsteller Ludwig Renn stammt. © Museum Zittau

Im Frühjahr 1931 ging ein junger Mann in die Görlitzer Ruhmeshalle, holte einen spitzen Gegenstand aus der Tasche und stach auf den Kupferstich mit dem Martyrium des Heiligen Sebastians ein. Das Bild stammte von dem Görlitzer Künstler Johannes Wüsten. Wenige Monate später konfiszierten die Behörden sogar ein Werk Wüstens, weil es den damaligen Etiketten nicht entsprach.

So weit wird es jetzt nicht kommen, wenn in diesen Tagen das Museum in Zittau vier Kupferstiche von Johannes Wüsten ausstellt. Darunter auch aus einer Folge von Stichen, die Wüsten unter dem Titel "Blutprobe" veröffentlichte und über die Kurt Tucholsky seinerzeit in der "Weltbühne" schrieb, sie seien "böse, herrlich böse - böse aus enttäuschter Güte."

Die Blätter von Johannes Wüsten sind Teil der großen Kunst-Ausstellung, die noch bis Ende September in Zittau zu sehen ist und einen Querschnitt über abstrakte Werke von Künstlern aus der Oberlausitz, aus Schlesien und Böhmen zeigt - in dieser Weise erstmals überhaupt. Zwei Jahre lang hat dafür die Dresdner Kunsthistorikerin Jördis Lademann recherchiert, wurden Museen angeschrieben und um Leihgaben gebeten. Nun ist das Ergebnis zu sehen: Es ist eines für die Augen und Sinne.

Johannes Wüsten entdeckte in den 1920er-Jahren die alte Kunst des Kupferstiches und eignete sich diese Technik an.
Johannes Wüsten entdeckte in den 1920er-Jahren die alte Kunst des Kupferstiches und eignete sich diese Technik an. © privat

Wüstens Arbeiten stammen aus dem Kulturhistorischen Museum Görlitz. Wie rund weitere 40 Werke, 15 Arbeiten lieh das Schlesische Museum in Görlitz aus. Zwar haben auch Sammlungen in Bautzen und Bischofswerda, das Albertinum in Dresden und das Gerhard-Richter-Archiv in Dresden Werke für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Viele stammen auch aus den Depots des Zittauer Hauses oder aus dem Besitz der Künstler selbst. Aber der Görlitzer Anteil fällt besonders auf.

Görlitz war in der Zwischenkriegszeit ein Kunstzentrum

Überraschend ist das nicht. War Görlitz für ein reiches Musikleben vor dem Ersten Weltkrieg bekannt, so holte die Stadt nach dem Kriege auf dem Gebiet der bildenden Künste nach. Junge Künstler kamen nach dem Ersten Weltkrieg nach Görlitz, der alte Sicherheiten zerstört hatte. Sie taten sich schwer, an die Traditionen vor dem Krieg nahtlos anzuknüpfen, auch an das gegenständliche Malen. Auf der Suche nach neuen Gewissheiten experimentierten sie, nahmen junge Impulse der internationalen Kunstszene auf und suchten auch in lang zurückliegenden Zeiten nach gedanklicher Tiefe und Orientierung.

So gründeten die Künstler und Maler Joseph Schneiderfranken und Fritz Neumann-Hegenberg 1920 einen Bund innerhalb des Lausitzer Kunstvereins, den sie nach dem Görlitzer Schuhmacher und Philosophen Jakob Böhme nannten. Sie beschäftigten sich mit seinen Büchern, weil sie sich auch für theologische und mystische Fragen interessierten und orientierten sich an der jungen Kunst des Expressionismus. Vor vier Jahren widmete bereits das Görlitzer Museum dem Expressionismus in der Stadt eine eigene Schau. "Unerhört" hieß sie damals. Und "unerhört" empfanden viele Menschen in der Zwischenkriegszeit diese Kunst. Die beschriebene Attacke auf Kunstwerke Wüstens ist beredtes Zeugnis dafür.

Die Museen in der Oberlausitz arbeiten gut zusammen. Hier Dr. Peter Knüvener, Direktor der Städtischen Museen Zittau (links), und Kai Wenzel vom Kulturhistorischen Museum Görlitz.
Die Museen in der Oberlausitz arbeiten gut zusammen. Hier Dr. Peter Knüvener, Direktor der Städtischen Museen Zittau (links), und Kai Wenzel vom Kulturhistorischen Museum Görlitz. © nikolaischmidt.de

Für den Görlitzer Museumsdirektor, Jasper von Richthofen, ist die Ausleihe so vieler Werke ein Zeichen für die "wunderbare Kooperation", die zwischen den Oberlausitzer Museen besteht. "Das ist ein angenehmes Geben und Nehmen", sagt er. "Da gibt es auch keine Beschränkungen, wir sehen das nicht als Konkurrenz."

Die Zittauer Schau bietet so etwas wie den Überbau zur Görlitzer Schau. Der Expressionismus als Teil abstrakter Kunst. "Es wird möglich, die Welt des Sichtbaren zu verlassen und sicher der Veranschaulichung innerer Bilder sowie der bewussten Auseinandersetzung mit den bildnerischen Mitteln von Form und Farbe zuzuwenden", erklärte einmal der Künstler Peter Lorincz über diese neue Ausdrucksweise.

Enge Beziehungen zwischen Görlitz und Breslau

Dass auch das Schlesische Museum einige seiner wichtigsten Bilder nach Zittau entsandt hat, liegt auch daran, dass die Breslauer Kunstakademie und deren Lehrer nach 1918 dem Expressionismus und damit der abstrakten Kunst eine Schneise schlugen. Und das Schlesische Museum sammelt deren Werke in besonderer Weise. Einblick in diese Sammlung gab das Schlesische Museum schon 2019 mit der Ausstellung "Avantgarde in Breslau 1919-1933". Und so geben Bilder von Oskar Moll und Otto Mueller, von Hans Leistikow oder Heinrich Tischler diese Breslauer Impulse in der Zittauer Schau wieder, wie eine Eulen-Figur von Marg Moll.

Der schon genannte Neumann-Hegenberg, ebenfalls in Zittau vertreten, wiederum war Schüler des Architekten Hans Poelzig in Breslau, der Görlitzer Willy Schmidt lernte bei Otto Mueller, die Glaskünstler aus Penzig, für die stellvertretend Richard Süßmuth mit einer schlicht gestalteten Vase in Zittau steht, hatten Zugang zu Johannes Wüsten. Und Willi Schulz aus Görlitz, der ebenso jetzt in Zittau vertreten ist, studierte mit dem Görlitzer Maler Arno Hentschel bei Alexander Kanoldt, der gleichfalls in Breslau eine Zeitlang wirkte. So sind es vielfältige Fäden, die die Maler verbindet, die nun in Zittau für die Zwischenkriegszeit zu sehen sind. Und man sieht auch, dass es keine schlechte Idee ist, wenn der Görlitzer Kunsthistoriker Kai Wenzel eine Ausstellung zum Jakob-Böhme-Bund vorbereitet.

Auf einen Blick die Impulsgeber abstrakter Kunst in Europa.
Auf einen Blick die Impulsgeber abstrakter Kunst in Europa. © Museum Zittau

Grafischer Mittelpunkt der Zittauer Schau ist eine Europakarte im Übergang vom früheren Franziskanerkloster zum Heffterbau, in die Jördis Lademann einzeichnete, woher überall die abstrakte Kunst Impulse empfand: Moskau, Posen, Stockholm, Berlin, Leiden, Dresden, München, Budapest, Prag, Paris, Mailand, Madrid, und Görlitz. Und wie sich Künstler jener Jahre über alle Grenzen hinweg sich verbunden fühlten.

Nun geht die Schau nicht allen diesen Impulsen nach, das hätte den Etat dann doch gesprengt. Aber wenigstens Görlitz, Breslau, Dresden und die Kunst aus der Oberlausitz, Schlesien und Böhmen sind repräsentativ vertreten, und zwar aus den vergangenen 100 Jahren. Und so hängen Werke von Gerhard Richter neben denen von Stefan Plenkers und Strawalde, Reinhard Roys neben denen von Carl Lohse. Vor allem in der Zittauer Galerie "Kunstlade" antworten dann Künstler der Gegenwart auf die historischen Vorbilder, Bettina Böhme aus Friedersdorf genauso vielfältig in ihrer Kunst wie Willy Schmidt aus Görlitz, Norbert Strahl aus Löbau und Dresden mit seiner Kugelschreiber-Arbeit "Keine Gewalt" auf Wüstens skurrilen Totentanz mit dem Namen "Eisenbahnunglück".

Auch diese Werke von Gerhard Richter sind in der Zittauer Ausstellung zu sehen sowie Materialbücher aus dem Besitz eines privaten Zittauer Kunstsammlers. Richter gehört zu den bedeutendsten Malern der Gegenwart.
Auch diese Werke von Gerhard Richter sind in der Zittauer Ausstellung zu sehen sowie Materialbücher aus dem Besitz eines privaten Zittauer Kunstsammlers. Richter gehört zu den bedeutendsten Malern der Gegenwart. © Museum Zittau

Jördis Lademann hängt die Werke zwar chronologisch, erzählt auch die verschiedenen Ausdrucksweisen vom Expressionismus über Informel-Kunst bis zur konkreten Kunst nacheinander. Ebenso zeigt die Schau die sehr unterschiedlichen Materialien und Techniken: vom Kupferstich über Textilkunst und Karikaturen, von Skulpturen aus Metall bis hin zu Öl- und Temperaarbeiten. Auch die Themen sind vielfältig ohne Ende: Die neuen Industrien, Landschaften, Porträts, moderne Entwicklungen wie der Braunkohlebergbau, der Orte wie Olbersdorf oder Zittau bedrohte.

Der rote Faden der Gesellschaftskritik

Zugleich aber versucht die Schau einen roten Faden in der Gesellschaftskritik dieser Kunst aufzuzeigen. Die Expressionisten der Zwischenkriegszeit galten im Dritten Reich als entartete Kunst, in der DDR stand abstrakte Kunst im Widerspruch zu dem geforderten sozialistischen Realismus. Und so ist diese Geschichte der ausgestellten Künstler auch eine der Verfolgung, der Flucht und Auswanderung, des Todes und der kleinen Freiheit in der Nische, von Dissidenten.

Es gibt kleine Ärgernisse in der Ausstellung. Das betrifft vor allem ein paar hässliche Rechtschreibfehler in den erläuternden Texten, über die man aber hinwegsehen kann.

Vor allem aber mangelt es Zittau an zusammenhängend großen Räumen, wo die Schau gut ausgestellt werden könnte. So kämpft man sich durch den Klostergang, indem einige Werke nicht gut ausgeleuchtet hängen und erklärende Aufsteller bereits Dinge vorwegnehmen, die erst im Hauptausstellungssaal im Heffter-Bau zu sehen sind. Auch die Übersichtskarte hätte man sich als Herz der Schau vorstellen können, von der alle Wege zu den Bildern führen.

Andererseits gibt die Mischung aus Dauer- und Sonderausstellung im Klostergebäude auch überraschende Momente trefflicher Beziehungen. So blickt eine Johannes-Statue aus dem Kloster Marienstern auf Willy Schmidts Darstellung vom heiligen Franziskus, der zu den Sternen schaut. Und ehe man in den Heffterbau kommt, muss man an einer Chronos-Plastik vorbei, der Gott der Zeit wacht hier.

Manche Künstler wie Willy Schmidt kehren nun mit ihren Werken nach Zittau zurück. Schon 1947 stellte er in Zittau aus. Damals hielt das die Görlitzer Künstlerschaft für einen Beweis dafür, "dass auch das oberlausitzisch-schlesische Gebiet Bedeutendes in expressionistischer Sprache zu sagen hat." Man kann dieses Urteil nun mit dieser Ausstellung durchaus auf die gesamte abstrakte Kunst erweitern.

Hinweis: Die Ausstellung "Wege in die Abstraktion im Dreiländereck" ist noch bis zum 25. September in der Galerie Kunstlade und im Kulturhistorischen Museum Franziskanerkloster in Zittau zu sehen. Das Museum ist dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr geöffnet, die Galerie dienstags bis sonntags 13 bis 17 Uhr. Führungen gibt es am 21. und 28. August, 15 Uhr.