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Ein selbstbewusstes Leben: Peter Stosiek ist tot

Peter Stosiek war Pathologe, Professor, Autor, Bürgerrechtler, Entwicklungshelfer, Sportler und Musiker, Familienvater, Geschichtenerzähler, SZ-Leserbriefschreiber. Jetzt müssen wir Abschied nehmen.

Von Sebastian Beutler
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Peter Stosiek fotografiert 2020.
Peter Stosiek fotografiert 2020. © Nikolai Schmidt

Am Ende eines langen, auf ganz eigene Weise gelungenen Lebens machte sich Peter Stosiek nichts vor. Von Zeit zu Zeit meldete er sich per Mail in der Redaktion, schickte kurze Überlegungen, kleine Steine, wie er sie nannte, die es wert seien, ins Meer der Meinungsäußerungen geworfen zu werden.

Ende September meldete er sich wieder, doch seine Mail enthielt den traurigen Hinweis, es werde wohl die letzte sein, viel mehr komme nicht mehr. Auf Nachfrage machte er aus seiner Krankheit kein Geheimnis. Er sollte recht behalten. Am letzten Novemberabend dieses Jahres vollendete sich sein Leben, das mehr als 86 Jahre umfasste und beispielhaft gezeichnet war von den deutschen Zeitläufen.

Sein letzter Brief, abgedruckt in dieser Zeitung am 5. Oktober, warf noch einmal die großen Fragen von Demokratie und Repräsentation der Bürger auf, dieses Mal vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine und die deutschen Waffenlieferungen. Dienen sie, so fragte er, dem Frieden, oder doch eher der Politik der USA, der Nato und der Waffenlobby, und was sagen die Bürger dazu. Erfahren, so schloss er, werden wir das wohl alles erst bei den Wahlen im kommenden Jahr.

In dieser letzten öffentlichen Mitteilung steckte der lebenslange Impuls von Peter Stosiek, mitzugestalten, sich einzumischen, etwas bewegen. Das war sein Naturell, das steckte in ihm drin. Damit eckte er an, damit feierte er Erfolge, das prägte auch seine Familie und die Beziehungen zu anderen. Stosiek lebte nicht im intellektuellen Elfenbeinturm, sondern mitten unter Menschen und für Menschen. Eine gewisse Direktheit und ein Bedürfnis nach Gemeinschaft lagen dem zugrunde. "Ich habe das Bedürfnis nach Taktlosigkeit", beschrieb er diese Haltung später einmal.

Ende der 1950er-Jahre kam er das erste Mal mit der DDR in Konflikt. Er studierte gerade Medizin in Halle, war in der katholischen Studentengemeinde aktiv und dabei, als sich die jungen Katholiken deutschlandweit zusammenfanden. Das passte dem sozialistischen Regime nicht, und so sperrte es Stosiek mehrfach kurzzeitig ein, und entließ ihn nach einem politischen Prozess und zwei Jahre nach seinem Staatsexamen aus dem Hochschuldienst.

Musik spielte im Leben von Peter Stosiek eine große Rolle. Er selbst spielte Orgel seit seinem 12. Lebensjahr, bis er 80 war, zuletzt in St. Hedwig in Görlitz-Rauschwalde. Und mit seiner Familie musizierte er im Quintett und gestaltete die Silvesterkonzer
Musik spielte im Leben von Peter Stosiek eine große Rolle. Er selbst spielte Orgel seit seinem 12. Lebensjahr, bis er 80 war, zuletzt in St. Hedwig in Görlitz-Rauschwalde. Und mit seiner Familie musizierte er im Quintett und gestaltete die Silvesterkonzer © Symbolfoto: SZ

Doch die Lebensfahrt Stosieks geriet damit nicht in eine Sackgasse. Beruflich ging er nach Schwerin und wurde Facharzt für Inneres am Krankenhaus, machte seine Ausbildung zum Facharzt für Pathologie und kam 1975 ans Bezirkskrankenhaus Görlitz.

Privat frönte er der Musik, besonders dem Klavier- und Orgelspiel, trieb leidenschaftlich Sport, lief Ski, fuhr Fahrrad, segelte oder wanderte.

Seine politischen Ansichten hielt er weiter nicht unterm Deckel, sondern verbreitete sie in Vorträgen in Studentengemeinden, Akademikerkreisen, katholischen und evangelischen Gruppen. Und dann schrieb er ab 1983 Briefe an das Zentralkomitee der SED, schilderte die Zustände im Land und in Görlitz. Er nahm den Staat beim Wort, drang darauf, dass er wenigstens seine Versprechen einhielt. Ein paar Jahre nach der Wende veröffentlichte Stosiek diese Briefe und für viele Görlitzer war es erstaunlich, was man äußern konnte. Später schrieb er, damit begann für ihn die Wende. "Mein Protest war von der Hoffnung getragen, dass es besser werden könnte und müsste."

Im vergangenen Jahr wurde Peter Stosiek noch der Sächsische Verdienstorden verliehen.
Im vergangenen Jahr wurde Peter Stosiek noch der Sächsische Verdienstorden verliehen. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Es wurde nicht so schnell besser, aber im Herbst 1989 entschloss er sich, zusammen mit Stefan Waldau, dem späteren Chef der Stadtbibliothek und Kulturamtsleiter von Görlitz, das Neue Forum auch in Görlitz zu gründen. "Im Schatten der Nacht und der Pathologie des Bezirkskrankenhauses" trafen sich die Gründer und fühlten sich in der "Etage über dem Sektionssaal vor ungebetenen Spähern einigermaßen sicher".

Es waren politisch die wohl glücklichsten Wochen für Stosiek, auch wenn es anfangs gefährlich war. Als die Behörden die Gründungsversammlung des Neuen Forums im Wichernhaus nicht genehmigten und die Polizei Konsequenzen ankündigte, rief Stosiek beim Leiter der Abteilung Staat und Recht im ZK der SED an und setzte bei ihm als Vorgesetzten der bewaffneten Organe der DDR durch, dass die Veranstaltung stattfinden konnte.

Stosiek war es dann auch, der Mitte Dezember als einer der Ersten nach Wiesbaden reiste. Wolfgang Remmele, Medizinprofessor und Autor eines Pathologie-Lehrbuchs, suchte einen Kontakt nach Görlitz und auf Empfehlung schickte er schließlich ein Telegramm an Stosiek und lud den Görlitzer mit seinen Mitarbeitern nach Wiesbaden ein. Noch Jahre später fand Stosiek für diese Reise, auf der er auch die Zusage von Görlitz für eine Städtepartnerschaft mit nach Wiesbaden brachte, nur überwältigende Worte. "Was jetzt kam, strahlt heute noch im Licht des Unwirklichen, Märchenhaften. Über allem diese unsägliche Freude und Freundlichkeit, die Bereitschaft, alle zu umarmen und alles zu geben. Das war Tausendundeine Nacht, das war ein Wintermärchen."

Das sich zwar noch ein paar Wochen am Runden Tisch fortsetzte, an dem Stosiek für das Neue Forum und die Katholische Kirche saß, doch spätestens mit den Wahlen im Frühjahr 1990 endete. Stosiek hat nie so recht verwunden, dass die Bürgerrechtsbewegungen bei den Wahlen schlecht abschnitten und sah darin vor allem die Folge der massiven Unterstützung beispielsweise der Ost-CDU durch die westliche Schwesternpartei. So sei verpasst worden die "Transfusion echten DDR-Blutes, das sich in 40 Jahren unwirtlichen Sauerstoffmangels gebildet hatte und das vielleicht einen kleinen politischen Schüttelfrost hervorgerufen hätte, aber für den Gesamtorganismus letztlich gesund gewesen wäre."

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So steckte in dem großen Glück der Freiheit für Stosiek auch ein großer Ärger: Wie die Lebensgeschichten der DDR-Bürger nach 1990 aus seiner Sicht entwertet und nicht mehr berücksichtigt wurden. Das saß tief, wie einem Text von 2005 von ihm zu entnehmen ist: "Der Schock (der Wiedervereinigung - sb) war dann schrecklich. Plötzlich wart ihr (die Westdeutschen - sb) nicht wiederzuerkennen. Aus den großen Brüdern waren die großen Herren geworden, die unsere Chefetagen besetzten, von der Politik über die Wirtschaft bis zu den Universitäten, die unsere Betriebe abwickelten, unsere Ländereien zurückforderten und die Gesamtheit unserer Zivilisations- und Kulturmuster für Schrott erklärten. Ihr übernahmt die Deutungshoheit für unsere Vergangenheit und den kompletten Fahrplan für unsere Zukunft."

Stosiek selbst aber hat die Freiheit zu einer zweiten Karriere genutzt, er verließ beruflich Görlitz, wurde Chef der Pathologie am Cottbuser Krankenhaus, 1994 übernahm er eine Professur an seiner alten Hallenser Uni. Und schließlich ging er für ein paar Jahre nach Armenien, lehrte an der Universität Jerewan, lernte Land und Leute kennen und erneut eine ganz andere Sicht auf das Leben.

Ein Leben, das im Februar 1937 im oberschlesischen Kostenthal begann und durch die Vertreibung nach Jauernick bei Görlitz eine unerwartete Wendung fand. Wie sehr sie den Menschen damals mitspielte, wie sehr das Erlebte auch den gereiften Stosiek nie losließ, ist seiner Kurzgeschichte vom Großvater im Buch "Rücksichten" zu entnehmen, das 2020 erschien. Der Großvater, ein angesehener Lehrer, steht für ihn als Gestalt wie ein Baum, ein Urbild der Beständigkeit. Doch nach der Flucht nach Bayern "war aus dem geachteten, geliebten Hauptlehrer ein Flüchtling geworden, ein Einsamer, der nichts galt und nichts hatte. Als Einziger dieser stolzen Familie war er für ein paar Kartoffeln, für ein Stück Brot betteln gegangen. Ich habe in dem alten, dünnen, traurigen Mann meinen geliebten Großvater kaum wiedererkannt. Sein Blick war unendlich traurig geworden. Sie haben dem Baum die Wurzel genommen. Ein Jahr später ist er gestorben."

Peter Stosiek hat sein Leben lang daran gearbeitet, dass seine Wurzeln heil und seine Würde unantastbar blieb. Es ist ihm bis zuletzt gelungen.