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Rückenwind für Görlitzer Klimaziel

Die Stadt Görlitz will binnen weniger Jahre klimaneutral sein. Doch im Alltag ist es gar nicht so leicht, das zu erreichen. Jetzt erhält die Stadt Hilfe von einer wissenschaftlichen Initiative. Was sie macht, sagt deren Chef im Interview.

Von Sebastian Beutler
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Junge Leute wie hier auf einer Schülerdemonstration von Fridays for Future in Görlitz vor vier Jahren drängen darauf, die Welt zu bewahren und den Ausstoß von Kohlendioxid radikal zu senken. Der Weg dahin ist aber nicht unumstritten.
Junge Leute wie hier auf einer Schülerdemonstration von Fridays for Future in Görlitz vor vier Jahren drängen darauf, die Welt zu bewahren und den Ausstoß von Kohlendioxid radikal zu senken. Der Weg dahin ist aber nicht unumstritten. © nikolaischmidt.de

Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu hatte vor vier Jahren das Ziel ausgegeben, dass Görlitz bis 2030 klimaneutral werden soll. Seit Anfang des Jahres gibt es ein neues Projekt, das diesem Ziel dient: TRUST. Dabei arbeiten die Stadt, die Görlitzer Vereine "Second attempt" und "Görlitz für Familien", die Stadtwerke Görlitz, die Europastadt Görlitz/Zgorzelec sowie das Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS) in Görlitz zusammen. Vor der Sommerpause wurde das Vorhaben im Stadtrat vorgestellt. Während es bei fast allen Fraktionen auf Zustimmung stieß, war die Ablehnung bei der AfD besonders heftig. Die SZ sprach nun mit dem Chef des federführenden IZS, Professor Dr. Robert Knippschild.

Robert Knippschild ist Leiter des Zentrums für transformativen Stadtumbau, das in Görlitz vor allem mit dem Projekt Probewohnen verbunden ist.
Robert Knippschild ist Leiter des Zentrums für transformativen Stadtumbau, das in Görlitz vor allem mit dem Projekt Probewohnen verbunden ist. ©  Archivfoto: Nikolai Schmidt

Herr Professor Knippschild, warum braucht es ein weiteres Format wie TRUST, um sich über Klimafreundlichkeit in Görlitz zu verständigen?

Das Projekt TRUST führt wichtige Vertreter aus der Görlitzer Wirtschaft, der städtischen Politik und Verwaltung sowie der Zivilgesellschaft in der Stadt beim Thema Klimaneutralität zusammen. Es gibt zu diesem Thema bereits viel Wissen und Erfahrungen bei den Akteuren, aber was fehlt, ist der gegenseitige Austausch und die Verständigung auf einen gemeinsamen Nenner.

Warum ist das so wichtig, wenn sich jeder auf seinem Gebiet um Klimafreundlichkeit kümmert, dann wird es doch auch im Gesamten dazu führen?

Ich denke, es ist wichtig, sich auszutauschen. Auf dem Weg zur Klimaneutralität wird es Konflikte geben, Widerstände, Akzeptanz- und technische Probleme. Wir sehen das gerade ja am Gebäudeenergiegesetz. All das muss gelöst werden, um das Ziel zu erreichen. Das spricht für gegenseitige Offenlegung von Interessen. Und dafür ist TRUST eine geeignete Austauschplattform. Die Teilnehmer unserer bislang drei Transformationsarenen in dem sozio-kulturellen Zentrum Werk 1 teilen meinem Eindruck nach dieses Grundverständnis.

Die AfD aber griff das Projekt zuletzt massiv an, stellte dessen Legitimität infrage, weitreichende Entscheidungen über die Görlitzer Stadtentwicklung zu treffen. Hatten Sie damit gerechnet?

Ja. Jede Frage ist auch legitim. Und wir ersetzen auch nicht den gewählten Stadtrat. Aber es reicht eben nicht aus, zu sagen, der OB, der Stadtrat und die Verwaltung müssen sich um das Thema kümmern. So werden wir das Problem nicht lösen. Neben dem hoheitlichen Handeln brauchen wir auch Veränderungen im Handeln jedes Einzelnen: Zu Hause sind das Fragen des Heizens oder des Energieverbrauchs, die Unternehmen müssen beispielsweise ihr Beschaffungswesen verändern, die Politik muss die richtigen Weichenstellungen treffen, die Wissenschaft Zusammenhänge aufzeigen und Fakten bereitstellen.

Haben Sie vielleicht auch ein wenig diese Reaktion ungewollt befördert, indem Sie mit dem Projekt gestartet sind, mehrfach sich bereits trafen und erst anschließend über die Stadtratssitzung im Mai die Görlitzer Öffentlichkeit informierten?

Da ist was dran. Vielleicht haben wir zu spät und zu wenig informiert. Dabei ist Öffentlichkeit wichtig, denn es geht ja um das individuelle Verhalten aller, das in diesem Prozess wichtig sein wird. Deswegen haben wir und unsere Projektpartner jetzt auch über den Sommer in Veranstaltungen über das TRUST-Projekt informiert und werden das auch fortsetzen.

Wie sind die Teilnehmer ausgesucht worden?

Zu den großen Zusammenkünften kommen 40 bis 45 Akteure zusammen. Sie wurden eingeladen von unseren Partnern in dem Projekt: Die Stadtwerke wandten sich an Unternehmen, die beiden Vereine an ihre Interessengruppen, die Stadt an Ämter, Fraktionen und Bürgerräte und wir an die Wissenschaft. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Breite des Publikums ist größer in Görlitz als beispielsweise in Dresden, wo Kollegen von mir ganz ähnliche Projekte durchführen.

Gibt es schon Ergebnisse?

Nein, so weit sind wir noch nicht. Wir haben erst mal eine Standortbestimmung vorgenommen, wo steht Görlitz. Und zwar bei Themen wie Mobilität, Konsum, Stadtentwicklung, lokale Wirtschaft und Energieversorgung. Als nächsten Schritt planen wir eine Visionsphase, in der wir zusammentragen, wofür Görlitz in der Zukunft bei Klimaneutralität stehen soll. Und in einem dritten Schritt wollen wir Wege aufzeigen, wie wir zu diesem Ziel kommen. Wichtig ist uns eben, dass wir die Stadt ermächtigen, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, sich nichts von oben aufoktroyieren zu lassen, sondern selbst zu handeln.

Wo steht denn Görlitz bei den fünf Themenfeldern, die Sie nannten?

Nehmen wir das Handlungsfeld Stadtentwicklung und Wohnen. Da ist der Gebäudebestand ein Vorteil. Wenn wir den reaktivieren können, indem wir ihn sanieren, sparen wir viel CO₂, das bei Neubauten anfällt. Görlitz ist zudem eine Stadt der kurzen Wege, auch das ist ein Vorteil, die Straßenbahn ebenso, aber dem Autoverkehr wird häufig noch Vorrang eingeräumt. Das sind nur wenige Beispiele, um zu zeigen, wie wir vorgehen.

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Derzeit sehr umstritten ist das ganze Thema Wärme und Heizen. Werden wir mal konkret, was kann das TRUST-Projekt beitragen, damit in Görlitz die Umstellung der Wärmeversorgung auf erneuerbare Energien gut gelingt?

Zunächst einmal sitzen Vertreter der Stadtwerke, Energieberater und Stadträte bei uns zusammen, diskutieren über das Thema und informieren sich gegenseitig über Strategien, Probleme, Interessen. So entsteht ein gemeinsames Verständnis von der Aufgabe, aus der dann Schritt für Schritt Vorhaben abgeleitet werden können, um das Ziel zu erreichen.

Im besten Fall gibt TRUST also Impulse an die Teilnehmer, wie sie bei der Klimaneutralität vorankommen?

Ja, wir wollen nicht nur das Wissen der Teilnehmer zusammentragen und miteinander teilen, sondern ihnen auch etwas zurückgeben, um das Ziel zu erreichen.

Nun sitzen maximal 50 Persönlichkeiten aus Görlitz zusammen. Die Stadt aber hat 56.000 Einwohner. Wie wollen Sie die Mehrheit der Görlitzer bewegen, auf den TRUST-Weg zur Klimaneutralität einzuschwenken, also mitzumachen?

Das ist nicht unser Anspruch. TRUST ist kein Beteiligungsprozess, den müssen unsere Partner parallel oder anschließend initiieren, also die Teilnehmer selbst. Im Stadtrat müssen dann die Debatten geführt werden, die Unternehmer müssen Dinge anstoßen, in der Verwaltung müssen die Ziele Berücksichtigung finden. TRUST ist ein Fachprozess, der aber offen für alle ist. So können sich Interessierte an die Stadtwerke, an die beiden Vereine, an die Stadt oder auch an uns wenden.

Was ist das Ziel des dreijährigen Prozesses?

Wir streben einen "Konsens" in Fragen der Klimaneutralität in Görlitz an und wollen uns darauf verständigen, was es bedeutet, wenn Görlitz klimaneutral ist. Das ist unser erstes Ziel. Aber es gibt noch ein zweites. Zugleich wollen wir erreichen, dass sich die unterschiedlichen Akteure in der Stadt dauerhaft austauschen und gegenseitig befruchten. Mein Eindruck ist: Es gibt viele Initiativen in Görlitz, ein hohes Interesse und Engagement in Vereinen, Unternehmen, in der Stadtverwaltung. Aber sie agieren zu wenig koordiniert. Wenn wir das verbessern, dann kann die Stadtgesellschaft besser auf künftige Herausforderungen reagieren. Für mich ist eine solche Eigenschaft entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt.