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Görlitzer Einzelhändler verzweifeln an Kriminalität

Eine Weiterbildung zeigt geringes Interesse – bis am Ende ein Reizwort fällt. Plötzlich schwappen Emotionen über.

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© dpa

Von Ralph Schermann

Görlitz. Schutz vor Kriminalität im Handel. Ein Dauerthema steht als Veranstaltungstitel. Die Europastadt Görlitz GmbH hat Kati Härtel-Bernhardt von der Geraer Regionaldirektion Ost der Berufsgenossenschaft für Handel und Warendistribution (BGHW) für einen Vortrag darüber gewonnen. Eingeladen sind alle Görlitzer Handelsleute – von der Führungskraft bis zum Lehrling. Nach erst nur schlappen sieben Anmeldungen drängen sich dann am Donnerstag doch weit über 30 Zuhörer in den Seminarraum der Jugendherberge Peterstraße. „Das zeigt großes Interesse am Thema“, sagt Roswitha Hennig von der Europastadt GmbH.

Die Besucher zeigen das weniger. Doch, der Vortrag ist schon interessant, es geht um das Verhindern von und das Verhalten bei Raubüberfällen. Es gibt die klassischen Hinweise, gewalttätigen Räubern keine Chancen zu bieten, es ihnen aber leicht zu machen, schlagen sie dennoch zu. Die eigene Gesundheit geht immer vor, falsches Heldentum verbietet sich. Die BGHW als Berufsgenossenschaft sieht das Thema allerdings anders als die Polizei: Hier geht es um die Mitarbeiterfürsorge und die Bestätigung, dass psychische Probleme nach einem Überfall auf die Ladenkasse als Arbeitsunfall anerkannt werden. Fallzahlen kann Kati Härtel-Bernhard deshalb nur jene nennen, die mit mehr als drei Tagen Krankschreibung einhergehen – das sind immerhin 3,5 Prozent aller Arbeitsunfälle im Handel überhaupt. Die polizeiliche Kriminalstatistik sieht dennoch anders aus.

90 Prozent aller Überfälle im Handel treffen Tankstellen, Kioske, Drogerie- und Lebensmittelläden. Drei von vier Taten erfolgen kurz vor Ladenschluss. Das Gewaltpotenzial der Täter steigt. Die BGHW-Referentin appelliert, Ruhe zu bewahren, Forderungen der Täter zu erfüllen, die Polizei erst nach Ende des Überfalls zu rufen, sich aber Täterbeschreibungen einzuprägen und alle vom Räuber angefassten Flächen für die Spurenauswertung zu sichern. Nichts neues, ist aus den Gesichtern der Zuhörer zu lesen. Gibt es Fragen? Keine.

Schon wäre der Vortrag vergessen, wäre da nicht Sebastian Wenger. Der Görlitzer Pensionsbetreiber nutzt die Zusammenkunft, um auf seinen Sicherheitsstammtisch hinzuweisen. Er hat ihn mit Vertretern von Industrie- und Handelskammer, Unternehmerverband und weiteren Interessengruppen gegründet, weil „die Entwicklung der grenznahen Kriminalität immer schlimmer wird“, sagt er. Und damit ist der BGHW-Vortrag vergessen, das Reizwort Grenzkriminalität gefallen, und der Referent des folgenden Themas muss warten. Denn jetzt haben die Anwesenden plötzlich viele Fragen: Wie sieht es konkret in Görlitz aus? Was wird gegen Ladendiebstahl getan? Kati Härtel-Bernhardt bedauert: „Dafür sind wir nicht zuständig, da kann ich nichts dazu sagen.“ Genau das aber war es, was sich die Zuhörer vom Thema der Veranstaltung erhofft hatten.

Die Handelsvertreter sind sich einig: In Görlitz werde man der Kleinkriminalität kaum Herr. Geschäftsinhaber sprechen über Hehlerringe, mafiöse Strukturen, organisiertes Verbrechen. „Auf der Berliner Straße sehen wir täglich dieselben polnischen Diebe, die Beschaffungskriminalität boomt“, heißt es. Händler nennen Plätze, auf denen die Beute aus Ladendiebstählen in Fahrzeugen zusammengetragen wird. Erwischte Täter aber werden auf freien Fuß gesetzt, der Frust der Händler brodelt. Für 2014 beziffert das Handelsforschungsinstitut EHI Köln einen „Warenschwund“ im Wert von 3,8 Milliarden Euro im deutschen Einzelhandel, 2,1 Milliarden Euro davon betrage der Schaden durch Ladendiebstahl. Auch berichtet das EHI mittlerweile von bandenmäßigem Diebstahl in großem Stil. Für das Gebiet der Stadt Görlitz bestätigt die Polizeidirektion „einen erheblichen Anstieg“. Sachsenweit registriert 2014 die Polizei 23 919 Fälle von Ladendiebstahl. Allein im Landkreis Görlitz sind es 1 282.

Dagegen hilft mehr Polizeipräsenz? „Ein Irrglaube“, sagt Sebastian Wenger und schildert einen Fahraddiebstahl, bei dem davor und danach Polizei in der Nähe war. Diebe informieren sich eben über Gewohnheiten von Anwohnern und Zeiten von Polizeikontrollen. „Es macht Angst, wenn man das Gefühl hat, dass man von krimineller Seite beobachtet wird.“ Dagegen besser vorzugehen, will er im Verbund mit anderen Betroffenen deutlich von der Politik fordern und lädt die Händler ein, sich seinem Stammtisch anzuschließen. Und auch die Europastadt GmbH zieht eine besondere Bilanz. Roswitha Hennig: „Das Thema ist so wichtig, dass wir uns für die Händler um eine Folgeveranstaltung bemühen wollen.“ Um dann tatsächlich konkret Görlitzer Probleme zu besprechen, will sie nun Partner dafür bei Polizei und Justiz gewinnen.