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Gorbatschow vom Westen enttäuscht

Mit Glasnost und Perestroika hat Michail Gorbatschow die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gemacht. 25 Jahre später warnt er: Der Westen beschwöre mit seiner Ukraine-Politik einen neuen Kalten Krieg herauf.

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© dpa

Berlin. Bei den Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin hat der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow schwere Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt sagte er am Samstag: „Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen.“ In den letzten Monaten habe sich ein „Zusammenbruch des Vertrauens“ vollzogen.

Der Friedensnobelpreisträger, der als einer der Väter der deutschen Einheit gilt, warf dem Westen und insbesondere den USA vor, ihre Versprechen nach der Wende 1989 nicht gehalten zu haben. Stattdessen habe man sich zum Sieger im Kalten Krieg erklärt und Vorteile aus Russlands Schwäche gezogen. „Die Ereignisse der vergangenen Monate sind die Konsequenzen aus einer kurzsichtigen Politik, aus dem Versuch, vollendete Tatsachen zu schaffen und die Interessen des Partners zu ignorieren.“

Vertrauen schon lange untergraben

Bereits in den 1990er Jahren habe der Westen begonnen, im Verhältnis zu Russland das Vertrauen zu untergraben, das die friedliche Revolution in Deutschland und in Mittel-Osteuropa möglich gemacht habe. „Die Nato-Erweiterung, Jugoslawien und vor allem das Kosovo, Raketenabwehrpläne, Irak, Libyen, Syrien“, nannte Gorbatschow als Beispiele. „Und wer leidet am meisten unter der Entwicklung? Es ist Europa, unser gemeinsames Haus.“

Protokoll des Mauerfalls

Als sich nach gut 28 Jahren in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Mauer öffnet, machen sich Zehntausende DDR-Bürger auf den Weg in den Westen. Es ist der Auftakt zur Deutschen Einheit. Wie es dazu kam - ein Protokoll:

18.53 Uhr - SED-Politbüromitglied Günter Schabowski erläutert auf einer internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin das neue DDR-Reisegesetz. Danach sollen Privatreisen ins Ausland ohne besondere Voraussetzungen möglich sein. Auf die Frage, ab wann das gilt, stammelt er: „Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort... unverzüglich.“

19.04 Uhr - Die Nachrichtenagentur dpa sendet die Eilmeldung: „Von sofort an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“ Die Nachricht platzt in die Bonner Bundestagsdebatte über eine neue Vereinsbesteuerung.

20.00 Uhr - Die ARD-“Tagesschau“ beginnt mit der Schlagzeile: „DDR öffnet Grenze“.

20.46 Uhr - Der Bundestag tritt in seinem Ausweichquartier im Bonner Wasserwerk zu einer Sonderaussprache zusammen. Am Ende der Sitzung singen die Abgeordneten spontan die Nationalhymne.

20.47 Uhr - Der zweite Tag der Sitzung des SED-Zentralkomitees endet in Ost-Berlin. Bisher hat die Partei- und Staatsspitze die Pressekonferenz und deren Folgen noch nicht zur Kenntnis genommen.

21.03 Uhr - Ein West-Berliner klettert auf die Mauer am Brandenburger Tor, kommt aber der Aufforderung der DDR-Polizei nach, in den Westteil zurückzuspringen.

Gegen 21.20 Uhr - Tausende fordern die Öffnung des Schlagbaums an der Bornholmer Straße im Ost-Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Die Grenzbeamten entscheiden sich für die sogenannte „Ventillösung“, bei der einige Ausreisewillige in den Westen gelassen werden. Mit dem Visumsstempel über dem Passbild werden viele Personalausweise ungültig gemacht - eine faktische Ausbürgerung. Nach Augenzeugenberichten gelangt zuerst ein junges Pärchen in den Westen, wo es mit Freudentränen und Umarmungen empfangen wird.

21.34 Uhr - US-Präsident George Bush reagiert auf einer Pressekonferenz in Washington zunächst zurückhaltend auf die Meldungen. Er sei „sehr erfreut“, sagt er, wirkt aber nachdenklich.

22.44 Uhr - Die West-Berliner Polizei meldet, dass am Brandenburger Tor die Westseite der Mauer mit Hämmern beschädigt werde.

Ab 23.00 Uhr - Der Druck an der Bornholmer Straße wird immer größer - bis die Beamten die Grenze öffnen und die Kontrollen einstellen: „Wir fluten jetzt!“ Dann gibt es kein Halten mehr: Tausende DDR-Bürger werden in West-Berlin enthusiastisch empfangen. In den kommenden 45 Minuten passieren rund 20.000 Menschen den Übergang.

23.50 Uhr - Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) gibt während seines Besuchs in Warschau eine Pressekonferenz. Er wolle seine Reise unterbrechen. Am nächsten Mittag fliegt er über Hamburg nach Berlin.

00.02 Uhr - Laut Lagebericht der DDR-Volkspolizei sind alle Grenzübergänge innerhalb Berlins geöffnet. Derweil rollt der erste Trabi über den Grenzübergang Duderstadt-Worbis nach Niedersachsen.

Ab 01.00 Uhr - Tausende West- und Ost-Berliner überwinden die Mauer am Brandenburger Tor. Sie tanzen auf dem Pariser Platz oder auf dem Grenzwall. Ab 03.30 Uhr riegeln Beamte aus Ost und West den Zugang zum Tor wieder ab. Ab 05.00 Uhr ist der Pariser Platz geräumt.

Gegen 03.00 Uhr - Nach Polizeiangaben macht sich der größte Teil der Ost-Berliner wieder auf den Rückweg aus dem Westen. Mehrere Zehntausend Menschen hatten die Grenze ungehindert passiert.

08.00 Uhr - Ab jetzt soll die Ausreise in den Westen mit Visum geschehen. Das DDR-Pass- und Meldewesen erteilt die Genehmigungen für Privatreisen beziehungsweise Visa zur ständigen Ausreise. In Berlin und an einigen anderen Grenzübergängen wie Rudolphstein und Helmstedt können DDR-Bürger zunächst weiterhin mit Personalausweisen passieren. Am Übergang Duderstadt-Worbis hingegen ist das nicht mehr möglich. Bis zum 11. November 13.00 Uhr werden 2,7 Millionen Visa erteilt.

09.30 Uhr - Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), sagt in seiner Rede in Bonn: „Gestern Nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt.“

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Ungeachtet der schweren Vertrauenskrise forderte Gorbatschow, dessen Politik der Öffnung die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen hatte, eine Stabilisierung der deutsch-russischen Beziehungen. „Hier in Berlin, zum Jahrestag des Mauerfalls, muss ich feststellen, dass all dies auch negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland hat“, sagte er. „Lasst uns daran erinnern, dass es ohne deutsch-russische Partnerschaft keine Sicherheit in Europa geben kann.“ Gorbatschow trifft am Montag mit Kanzlerin Angela Merkel zusammen.

Der 83-Jährige, der früher als Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin hervorgetreten war, warb bei der Veranstaltung der „Cinema For Peace Foundation“ direkt am Brandenburger Tor erneut um Verständnis für die aktuelle Moskauer Politik im Ukraine-Konflikt. Jüngste Äußerungen Putins ließen das Bestreben erkennen, Spannungen abzubauen und eine neue Grundlage für eine Partnerschaft zu schaffen. Gorbatschow forderte eine schrittweise Aufhebung der gegenseitigen Sanktionen. Vor allem die von der EU und den USA verhängten Strafmaßnahmen gegen Politiker müssten aufgehoben werden. (dpa)