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Grüner Gigant mit Wachstumsstörung

Brasilien gilt fast notorisch als „Land der Zukunft“. Das Land muss aber aufpassen, dass es das auf Dauer nicht bleibt. Denn es schöpft sein Potenzial bei weitem nicht aus.

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© dpa-tmn

Von Helmut Reuter

Rio de Janeiro. Der „Grüne Gigant“, so wird Brasilien oft und gerne genannt. Das fünftgrößte Land ist inzwischen zur sechstgrößten Volkswirtschaft avanciert, auch aufgrund der weltweiten Finanzturbulenzen und Europas Schwäche. Doch Samba-Stimmung will sich nicht so recht einstellen. 2,5 Prozent soll die Wirtschaft dieses Jahr wachsen. Vielleicht sogar um 3,0 Prozent, hofft die Regierung. Höchstens 2,0 Prozent, rechnen einige Ökonomen. Alle sind sich einig: Es wäre mehr drin, viel mehr.

„Wir haben das Potenzial von mindestens vier Prozent Wachstum“, dachte Finanzminister Guido Mantega kürzlich laut nach. Aber dieses Jahr werde dies wohl nicht erreicht, fügte er eilig hinzu. Warum das 200 Millionen Einwohner zählende Brasilien seine PS nicht richtig auf die Straße bringt, hat viele Gründe. „Schlechte Infrastruktur, mangelnde Investitionen, Exportschwäche, Diskrepanz zwischen Lohn- und Produktivitätsentwicklung“, zählt Makro-Ökonomin Maria Beatriz David nur einige Faktoren auf, die Brasilien bremsen.

Die Professorin lehrt seit 26 Jahren an der Wirtschaftsfakultät der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro (UERJ) und sieht die Entwicklung in ihrer Heimat „kurzfristig eher pessimistisch“. Während die BRIC-Kollegen China und Indien in den vergangenen Jahren durchschnittlich eine Investitionsquote (privat und staatlich) von 30 bis 35 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt aufwiesen, liege diese Rate in Brasilien gerade mal bei 15 bis 16 Prozent. „Das ist viel zu wenig“, sagt David.

Brasilien kämpfte in den vergangenen Monaten zudem mit der Abwertung der heimischen Real-Währung und einem immer stärker werdenden Dollar, wodurch Importe verteuert wurden. Der Dollar legte im Laufe des Jahres zeitweise um über 20 Prozent zu. Um der Inflationstendenz entgegen zu wirken, schraubte die Zentralbank den Leitzins mehrfach auf aktuell 9,0 Prozent hoch. Tendenz steigend. Das verteuert wiederum Kredite, was Schleifspuren in der Konjunktur hinterlassen dürfte. Auch an der Bovespa-Börse in São Paulo herrscht keine Jubelstimmung: Der wichtigste Index (Ibovespa) fiel im ersten Halbjahr um 22 Prozent und liegt derzeit immer noch 13 Prozent unter dem Jahresbeginn.

Riesiger Konsumentenmarkt lässt Investoren frohlocken

Ausländische Investoren lassen sich allerdings nicht schrecken und schielen vor allem auf den riesigen Konsummarkt. Auch lockt das Land mit gigantischem potenziellem Investitionsvolumen und Konzessionen für Straßen, Schienen, Häfen und Flughäfen. 2012 registrierte Brasilien Auslandsdirektinvestitionen von 65,3 Milliarden US-Dollar. Nur in den USA und China waren es mehr. „Wir setzen auf die wachsende Mittelschicht Brasiliens“, erklärte kürzlich Audi- Beschaffungsvorstand Bernd Martens, und Audi-Chef Rupert Stadler attestierte Brasilien ein veritables „Wirtschaftswunder“.

Während die Konzernmutter schon seit 60 Jahren da ist, wird die die VW-Tochter ab 2015 wieder in Brasilien produzieren, um die Kunden auf dem inzwischen viertgrößten Automarkt vor Ort zu beliefern. Auch BMW baut ein Werk im Süden, Jaguar ist auf dem Sprung und Mercedes wohl auch. Alle haben den Premium-Markt und Brasiliens Besserverdiener im Visier. Der Markt für teuerere Autos könnte bis 2020 um satte 170 Prozent auf ein Volumen von 100 000 Autos steigen, hoffen die Nobelkarossen-Bauer. Auch das ist Brasilien.

Die Autoindustrie gilt als eine Vorzeigebranche und das Rückgrat der brasilianischen Industrie. Die Sparte wird mit staatlichen Anreizen und Steuervergünstigungen gepusht beziehungsweise mit Zöllen abgestraft, wenn es sich „nur“ um Importautos handelt. „Zu kurzfristig gedacht“, findet die Ökonomin David. Sie hält die Möglichkeiten, den Konsummotor zu beschleunigen, für erschöpft. „Brasiliens Wirtschaftspolitiker schauen nur in den Rückspiegel und die Regierung denkt zu sehr von Tag zu Tag. Was fehlt, ist ein langfristiges Zukunftskonzept.“ (dpa)