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Handarbeiter händeringend gesucht

Physiotherapeutin Dorit Friebe spürt den Fachkräftemangel. Doch die Ursachen dafür sieht sie nicht allein in Niesky.

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© André Schulze

Von Alexander Kempf

Im kommenden Jahr feiert Dorit Friebe ihren 50. Geburtstag. Wer der Physiotherapeutin eine Freude machen will, der vermittelt ihr bis dato eine Fachkraft für ihre Praxis. Wobei, er müsste gar nicht erst bis 2017 warten, Dorit Friebe wäre schon jetzt über Unterstützung sehr dankbar. „In den 20 Jahren meiner Selbstständigkeit ist es immer schwierig gewesen, Fachkräfte zu finden“, sagt die 49-Jährige, „aber so schwierig wie jetzt, war es noch nie.“

Dabei kann niemand der Unternehmerin nachsagen, dass sie sich nicht intensiv um einen neuen Mitarbeiter bemüht. Am Geländer vor ihrer Praxis in der Konrad-Wachsmann-Straße hängt seit Tagen ein Plakat. „Physiotherapeut/in gesucht!“, steht darauf. Außerdem hat sich Dorit Friebe an die Initiative „Sachse komm zurück“ gewandt und auch beim Arbeitsamt eine Anzeige aufgegeben. Bisher ohne Erfolg.

Doch Dorit Friebe weiß, dass ihr so viel Zeit nicht mehr bleibt, um Verstärkung zu finden. Eine Kollegin im Team ist schon über 60 Jahre alt. Nur eine Mitarbeiterin ist jünger als 30 Jahre. Wenn sich diese für ein weiteres Kind entscheidet, dann stünde ihre Chefin schnell vor einem Problem. „Ich könnte sie nicht ersetzen“, sagt Dorit Friebe. Aber schließen in Görlitz nicht jedes Jahr neue Physiotherapeuten ihre Ausbildung ab? Das ist so, bestätigt die Unternehmerin. Im dritten Lehrjahr sollen derzeit 15 Schüler an der Privatschule lernen. Das bestätigt auch die Einrichtung. Doch Berufsanfänger wären für die Nieskyerin derzeit nur bedingt eine Hilfe. „Wir brauchen keinen frisch ausgebildeten Physiotherapeuten, sondern einen mit Weiterbildungen in Manueller Therapie, Lymphdrainage und neurologischen Behandlungsmethoden “, erklärt Dorit Friebe. Im Arbeitsalltag sind solche Zusatzqualifikationen gefragt. Doch gerade der Abschluss für Manuelle Therapie kann nur berufsbegleitend erworben werden und nimmt bis zu zweieinhalb Jahre Zeit in Anspruch. Solche Fachkräfte sind in der Region rar. In Großstädten mag die Situation eine andere sein. Dorit Friebe aber sucht vergebens.

Dabei ist sie nicht die Einzige, die um den Nachwuchs besorgt ist. „Ich kann bestätigen, dass es einen Fachkräftemangel gibt“, sagt auch Physiotherapeutin Claudia Taubert. Sie betreibt ebenfalls eine Praxis in Niesky. Doch warum rücken weniger gut ausgebildete Physiotherapeuten nach als früher? Claudia Taubert führt den Fachkräftemangel auf zwei Ursachen zurück. So würden sich erstens die geburtenschwachen Jahrgänge bemerkbar machen. Das spüren verschiedene Branchen. Darüber hinaus hätten die Physiotherapeuten damit zu kämpfen, dass sie nicht angemessen genug bezahlt werden. „Ganz allgemein wird der Dienst am Menschen leider finanziell nicht sehr wertgeschätzt“, sagt sie.

Und eine weitere Besonderheit beschäftigt Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Die von Dorit Friebe und anderen verlangten Zusatzqualifikationen kosten Geld. Die muss die angehende Fachkraft oft selbst zahlen. Mit dem Schulgeld für die allgemeine Ausbildung kommen über die Jahre so schnell mehrere Tausend Euro zusammen. Kursgebühren, Arbeitsausfall sowie Fahrtgeld – Berufsanfängern entstehen auch nach dem ersten Berufsabschluss noch viele Kosten. „Und damit bessern sie nicht unbedingt ihr Gehalt auf“, sagt Dorit Friebe.

Müssten also die Praxen selbst mehr in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter investieren, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken? „Wir können nicht ausbilden“, sagt Dorit Friebe. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass Praxen die Fortbildungen ihrer Mitarbeiter finanziell bezuschussen. Doch wie sollen sie diese Kosten später wieder einspielen? Denn es gibt keine Garantie, dass die Fachkraft nach der teuren Ausbildung im Unternehmen bleibt. Die Mitarbeiter könnten zwar vertraglich zusichern, dass sie dies tun. Doch solche Vereinbarungen bewerten Arbeitsrechtler kritisch. „Rechtlich gibt es keine Sicherheit, einen Arbeitnehmer an die Firma zu binden“, sagt die Physiotherapeutin und Unternehmerin Claudia Taubert.

Wie kann sich die Situation also verbessern? Dorit Friebe ist der Meinung, dass die Berufsausbildung reformiert werden muss. Seit Jahren bemühen sich Berufsverbände darum, dass die Physiotherapeuten unabhängiger von Ärzten und deren Überweisungen werden. Das würde an ihre Ausbildung höhere Anforderungen stellen, verspricht aber auch mehr Verantwortung und Verdienstmöglichkeiten. In Skandinavien oder den Niederlanden erfordert der Beruf des Physiotherapeuten schon heute oft ein medizinisches Studium.

„Unser Verband kämpft seit Jahren für die Akademisierung des Berufes und einen Direktzugang zum Patienten“, sagt Annerose Anys. Die gebürtige Rothenburgerin steht beim Deutschen Verband für Physiotherapie dem Landesverband Sachsen vor. Auch sie attestiert der Branche einen Fachkräftemangel. Steigende Unkosten, zusätzliche Auflagen und eine „grottenschlechte“ Bezahlung – all das mache den Beruf für junge Menschen uninteressant. Gerade in den Praxen, wo schlechter bezahlt werde als in Kliniken. „Ein junger Mann, der in einer Praxis angestellt ist, kann heute keine Familie ernähren“, sagt sie.

In Deutschland wähnen sich viele Physiotherapeuten unterbezahlt. Die Krankenkassen diktieren ihrer Auffassung nach die Preise für die Leistungen. Das schafft wenig Spielraum bei der Bezahlung von Fachkräften. „Es ist schwer, der Leistung angemessene Löhne zu zahlen“, sagt Dorit Friebe. Zwischen 8,50 Euro und maximal 12 Euro verdiene ein Physiotherapeut in Sachsen. „Aus diesen Gründen wandern auch junge Leute aus dem Beruf ab“, stellt sie fest. Dabei habe der doch eigentlich so viele tolle Seiten. Sich fachlich entwickeln, mit Menschen arbeiten und diesen auch helfen – das hat sie einst daran gereizt.

Die ostdeutschen Physiotherapeuten verstimmt zudem, dass sie noch immer weniger Geld als ihre westdeutschen Kollegen erhalten. „Wir sind noch nicht angeglichen“, sagt Annerose Anys. Zwar soll die Angleichung der Gehälter bis 2021 erfolgen. Doch das geht vielen nicht schnell genug. „Mehr als 25 Jahre nach der Wende ist das ein Armutszeugnis“, sagt auch Physiotherapeutin Claudia Taubert

Doch selbst wenn sich die Gehälter angleichen, dürften viele Physiotherapeuten in Ost wie West weiter mit ihren Gehaltszetteln hadern. Müssen sie also unabhängiger von Ärzten werden? Das ist eine knifflige Frage. Claudia Taubert setzt auf eine enge Zusammenarbeit mit den Medizinern und regelmäßige Abstimmungen. „Es gibt Dinge, die kann nur ein Arzt machen“, sagt sie. Denn ihm stehen zum Beispiel Röntgenaufnahmen, Blutbilder und die Ergebnisse einer MRT zur Verfügung. Das erlaubt präzise Diagnosen, um die Ursachen von Schmerzen ausfindig zu machen.

Trotzdem sagt auch sie, dass Physiotherapeuten in bestimmten Bereichen mehr Verantwortung übernehmen könnten. So käme es schneller zu Behandlungen, ist sie überzeugt. Mittlerweile gibt es in Sachsen auch duale Studiengänge für Physiotherapeuten. Doch der Anreiz ist für viele gering, da er im Alltag nicht mehr Gehalt verspricht. „Ein Bachelor macht nur Sinn, wenn man in die Forschung gehen will“, sagt Claudia Taubert.

Die Berufsverbände begrüßen die Studiengänge. Annerose Anys vom Deutschen Verband für Physiotherapie räumt aber ein, dass Physiotherapeuten dadurch noch nicht unabhängiger von Ärzten werden. Das Ziel bleibe eine flächendeckende Reform der Berufsausbildung. „Das muss novelliert werden“, sagt sie. Doch die Physiotherapeuten vermissen eine Lobby. „Wir sind Handarbeiter“, sagt Dorit Friebe. Da fehle es an Rückendeckung. Dabei kann sie nicht über Mangel an Arbeit klagen. Es gibt viel zu tun. Ohne Nachwuchs könnte es irgendwann zu viel sein. In den nächsten Jahren werden viele Kollegen nach und nach in Rente gehen, warnt Dorit Friebe. „Ab 2020 beginnt das“, sagt sie, „dann kommt keiner mehr nach.“