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Hass, Wut, Ressentiment

Robert Menasse empört sich in seiner Dresdner Rede über die Empörung anderer.

Von Karin Großmann
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"Morgen bin ich tot." So begann Robert  Menasse am Sonntag seine Dresdner Rede.
"Morgen bin ich tot." So begann Robert Menasse am Sonntag seine Dresdner Rede. © Thomas Kretschel

Es gab schon manche Überraschung bei den Dresdner Reden. Wenn eine Reihe seit einem Vierteljahrhundert läuft und fast immer ausverkauft ist, darf man etwas Besonderes erwarten. Dass aber ein Redner im ersten Satz seinen baldigen Tod ankündigt, das war noch nicht da. Robert Menasse meint es beinahe ernst. Er begründet seine Prophezeiung mit einer Nahtod-Erfahrung. Just an dem Tag, als er mit dem Schreiben seiner Rede beginnen wollte, wurde er ins Krankenhaus eingeliefert. Der Defekt habe sich als banal erwiesen, aber in den Stunden zwischen Geräten und Ärzten habe er sich mit einigem Schrecken gefragt: Was müsste er sagen, wenn der Auftritt im Dresdner Schauspielhaus an diesem Sonntag sein letzter wäre? Welche Botschaft hätte er noch dringend zu verkünden? Welche Sätze würde er unvergesslich in Steintafeln meißeln wollen? Was wäre sein Vermächtnis an die Menschheit, denn darunter tut man’s ja nicht?

Diese Fragen reicht der Schriftsteller ans Publikum weiter und überrascht gleich noch mal. Denn er geht weg, geht für die Zeit einer Zigarettenlänge von der Bühne. Jetzt sollen die Leute im Saal Gelegenheit haben zum Nachdenken. Es wäre auch ein Nachdenken über die eigenen Erwartungen an jeden, der auf einem Podium steht. Die Reaktionen: Schweigen, Tuscheln, Kichern, zuletzt sogar Klatschen ins Leere.

Mitten in seiner Rede  verschwand Robert Menasse von der Bühne: Zeit zum Nachdenken fürs Publikum. 
Mitten in seiner Rede  verschwand Robert Menasse von der Bühne: Zeit zum Nachdenken fürs Publikum.  © Thomas Kretschel


Der 64-jährige österreichische Schriftsteller Robert Menasse lädt zu einem Gedankenspiel ein, also auf sein ureigenstes Feld der Literatur. Dort gehört er zu den besonders begabten Spielern. Er bringt witzige Pointen, Schnurren und Anekdoten und lässt am helllichten Tag ein verstörtes Hausschwein durch das Zentrum von Brüssel laufen. So ereignet es sich im Roman „Die Hauptstadt“, der 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Gerade kam die Geschichte in Salzburg auf die Bühne.

Einige Jahre lang hatte Menasse vor Ort recherchiert, um das System der Europäischen Union und ihre inneren Widersprüche zu verstehen. Er erlebte, wie die nationalen Regierungen mit kurzsichtigen, populistischen Winkelzügen die Idee der Gemeinsamkeit torpedieren. Das Schwein nimmt er als Beispiel fürs Ganze. Als lebendes Tier, als Handelsware oder als Wurst im Glas unterliegt es völlig verschiedenen Gesetzen. Der Irrsinn lässt sich steigern, wenn der Chef des Schweineverbandes den Schutz der EU für seine eigene Rasseherde fordert, sonst aber die EU für eine Verschwörung des Weltjudentums hält. Die Frage, ob solche Beamten überhaupt literaturfähig sind, konnte Robert Menasse in dem Roman überzeugend beantworten.

Neue Messlatte: Roboter

Er hat auch in Dresden eine Antwort auf die Frage nach der letztgültigen Botschaft im Angesicht des baldigen Todes. Es könnte die Warnung vor dem ökologischen Kollaps des Planeten sein, vor der Digitalisierung, der Globalisierung oder wovor auch immer. Menasse, als Sohn einer jüdischen Familie in Wien geboren, hat in der letzten Zeit die großen Worte für große Mahnungen nicht gescheut. Er hat seine Heimatstadt empört als „Echoraum von Ressentiment, Xenophobie und Zynismus“ beschrieben und darauf beharrt, dass sich eine Friedensunion auch um den sozialen Frieden kümmern muss, weil sie sonst keine ist. Jetzt, auf der Bühne des Schauspielhauses, gibt er einen einfachen Satz zu bedenken: „Wir sollten das Leben gestalten, statt zu versuchen, fit zu bleiben, während wir es erleiden.“

Seine Rede ist auch ein Exkurs über das, was den Menschen zum Menschen macht. Lange Zeit sei dafür der Vergleich zum Tier herangezogen worden. Jetzt denke man in die andere Richtung und vergleiche den Menschen mit Robotern und künstlicher Intelligenz. „Nicht mehr das animalische Leben ist die Messlatte, sondern die funktionale Kälte des Artifiziellen.“ In jedem Fall aber werde ein grundsätzliches Überlegenheitsgefühl definiert. Ein Roboter sei nie in der Lage, heiße es da, eine Sinfonie zu komponieren wie Beethovens Neunte. „Ich werde das auch nie können“, sagt Robert Menasse mit schrägem Lächeln. Er hat Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie studiert und vermittelt in seinen Essays einen ironisch-kritischen Blick auf die Welt. Dieser Blick ist häufiger vom Pessimismus gefärbt als vom Optimismus.

Werte mit Preisschild

Der Autor denkt darüber nach, dass es neben dem Komponistentalent noch etwas anderes geben muss, was den Menschen vom Tier trennt und vom Roboter. Für Menasse ist das zum einen das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit – und zum anderen das Gattungsbewusstsein, verbunden mit dem Wunsch und dem Recht, von anderen Menschen als Mensch behandelt zu werden. Und doch, sagt er, sei es gerade dieser Gattung vorbehalten gewesen, die Unmenschlichkeit auf die Welt zu bringen.

Ein Dilemma. Es offenbart sich für ihn in der Differenz zwischen Sonntagsreden und Realität. In den Sonntagsreden werden klar und schön „unsere Werte“ beschworen. Dazu gehört im aufgeklärten Europa die Pressefreiheit. Doch natürlich drückt sich der Wert im Preis aus, sagt Menasse: Unsere Werte haben ein Preisschild bekommen. Er nennt die Zahl, die auf dem Schild steht: 4,75 Milliarden Euro. Für diese Summe liefert Europa Waffen an Saudi-Arabien. Damit würden die Mörder eines kritischen Journalisten als strategische Partner behandelt. Ohne den Namen zu nennen, erinnert Menasse an den regierungskritischen Journalisten Jamal Khashoggi, der im Oktober 2018 das saudi-arabische Konsulat in Istanbul betrat und verschwand: gefoltert, erwürgt, zerstückelt, die Finger in Säure aufgelöst, so die Gerüchte. Die schockierenden Umstände erspart der Redner dem Publikum. 

Geteilte Welt

Er fordert, dass die Versprechen von Sonntagsreden eingelöst werden. Darauf müssten die Menschen bestehen. Doch statt die Zustände in der Gesellschaft zu verändern, versuchen sie, sich selbst zu verändern, sich anzupassen und einzupassen, und sie zahlen dafür einen hohen Preis, sagt Menasse. „Es ist der Hass, die Wut, das Ressentiment, das sind die Münzen, mit denen heimgezahlt wird, dass das Gegebene, das Vorausgesetzte, das Gewohnte diesen Menschen nicht heimelig, nicht Heimat ist.“

Robert Menasse fragt, warum die Betroffenen nicht nach den Ursachen der Misere fragen, die weit in den Mittelstand hineinreicht, sondern vielmehr ihr Recht im Ungerechten wollen: „Sie wollen von den Verhältnissen, von denen sie gedemütigt, missachtet, an den Rand gedrängt werden, anerkannt werden – ich muss lachen und weinen, wenn ich das beobachte.“ Menasse beschreibt eine Welt, die geteilt ist in die Fitten und die Wütenden, die vermeintlich Glücklichen und die Hoffnungslosen, die nicht einmal mit der Anteilnahme der Satten rechnen können. Dieser Welt stellt er die universale Geltung der Menschenrechte gegenüber – als schöne Vision. Tatsächlich ist die UN-Menschenrechtscharta von 1948 nur ein Ideal, eine unverbindliche Empfehlung. Sie wurde von etlichen Staaten wie etwa den USA nicht unterschrieben.

Dieses Ideal sieht der Redner im weltpolitischen Alltag infrage gestellt. Mit zorniger Stimme liefert er seine Zustandsbeschreibung: „Die miserablen Bürger europäischer Nationen, die buchstäblich ein Mördergeschäft mit Waffenlieferungen in Krisengebiete machen, sprechen den Menschen, die vor diesen Waffen flüchten, das Recht ab, ihr Leben retten zu wollen.“ Ebenso kritisiert er jene Bauern, die mit dem Export hochsubventionierter Produkte die Infrastruktur in anderen Ländern zerstören und dann die Überlebenden, die sich auf den Weg machen, abschätzig „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen, mit dem Zusatz: „bloß Wirtschaftsflüchtlinge“.

Er empört sich über Menschen, die den Klimawandel mitproduzieren und dann gegen jene mobil machen, die vor Dürre, Hunger und Tod flüchten. „Immer mehr Menschen grölen ,Wir sind das Volk‘ und glauben allen Ernstes, dass andere Menschen nicht zum Volk oder andere Völker nicht zur Menschheit gehören.“

Gift in die Seele geträufelt

Wenige Schriftsteller setzen sich so furios mit politischen und sozialen Verhältnissen auseinander wie der 64-jährige Österreicher. Er hat schon vor dem EU-Parlament gesprochen, hat Streitschriften publiziert und tritt dort wie in seinem Roman „Die Hauptstadt“ vehement für die europäische Idee ein. Das Buch ist in 25 Sprachen übersetzt. Der Autor wird als „Pionier des Genres Euroliteratur“ gefeiert. Einige Male hat er Fakten und Fiktion unzulässig vermischt und damit die Gründungsgeschichte der EU verschönert. Dafür hat er sich mittlerweile entschuldigt.

In seiner Dresdner Rede geht er indirekt auf die erbitterte Diskussion ein, in die er geriet. Er spricht von bestimmten Lebenssituationen, die Gift in die Seele träufeln, und von Scharmützeln mit Menschen, die bald vergessen sein dürften: Neunzig Prozent unserer Konflikte seien nur deshalb langlebig, weil wir nicht an den Tod denken.

Am Ende versichert Robert Menasse, dass es mit seinem Tod noch etwas Zeit hat. Dennoch werde diese Rede die vorab letzte sein: „Ich will nicht mehr reden, ich will lieber wieder mehr schreiben, erzählen.“ Er tut das in der Hoffnung, „vielleicht doch Empathiefähige zu finden, heute und später, unter dem Baldachin der Mörder“.

Die Dresdner Reden werden veranstaltet in Kooperation von Sächsischer Zeitung und Staatsschauspiel Dresden. Am 10. März hält der Historiker Ian Kershaw seine Rede. 

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