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In Helenes Welt gibt es keine bunten Farben

Helene aus Lauta leidet unter Achromatopsie - eine seltene Krankheit. Betroffene sehen alles in schwarz-weiß. Wie die Achtjährige trotzdem Farben erkennt.

Von Ralf Grunert
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Helene hat eine Sechs gewürfelt. „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen, wird ihr durch die unterschiedlichen Figuren erleichtert. Die Achtjährige könnte natürlich auch die farbigen Kegel anhand der Grautöne unterscheiden. So geht es aber einfacher.
Helene hat eine Sechs gewürfelt. „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen, wird ihr durch die unterschiedlichen Figuren erleichtert. Die Achtjährige könnte natürlich auch die farbigen Kegel anhand der Grautöne unterscheiden. So geht es aber einfacher. © Foto: Ralf Grunert

Lauta. Wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind, gilt eine Erkrankung als selten. Selten, nämlich nur alle vier Jahre am 29. Februar, wird der „Tag der Seltenen Krankheiten“ begangen.

Dabei kommen seltene Erkrankungen gar nicht so selten vor. Es gibt mehr als 6.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen. Jährlich kommen laut Bundesministerium für Gesundheit etwa 250 hinzu. Selten sind sie heilbar. In mehr als 70 Prozent sind sie genetisch bedingt – wie im Fall von Helene.

Die Achtjährige ist in Lauta Dorf zu Hause und gehört zu den rund 2.700 Menschen in Deutschland, die unter Achromatopsie leiden. Was das heißt? Helene hat eine Sehkraft von nicht mal zehn Prozent. Sie ist darüber hinaus extrem lichtempfindlich und sieht die Welt nicht in bunten Farben. Ihr Sehvermögen beschränkt sich auf Schwarz, Weiß und die Grautöne.

Brillen mit dunklen Gläsern

Geht es ins Freie, geht nichts ohne Brille mit speziellen dunklen Gläsern für verschiedene Situationen, für die Nacht, die Dämmerung und Tageslicht. „Das ermöglicht ihr, die Augen zu öffnen und ihre Umgebung wahrzunehmen, ohne zu stark geblendet zu werden“, schildert die Mutter der Achtjährigen, die in den heimischen vier Wänden zumeist ohne Brille auskommt.

Beim Besuch in der Wohnung von Familie Klein hantiert Helene gerade mit einem Zauberwürfel. Von einer Sehbehinderung ist nichts zu bemerken. Zielgenau sorgt sie dafür, dass alle Segmente einer Seitenfläche die gleiche Farbe haben. Allerdings nicht durch Drehen am Würfel. Vielmehr schnipst Helene die zu tauschenden Elemente aus deren Arretierung und setzt sie an den richtigen Stellen wieder ein. So ist das beim Zauberwürfel zwar nicht gedacht, aber es ist der schnellste Weg zur Lösung - und ziemlich clever.

Genauso selbstverständlich bedient die Zweitklässlerin die Technik, die ihr hilft, dem Unterrichtsgeschehen in der Grundschule in Laubusch zu folgen. „Der Laptop ist ihre Tafel. Mit dem Lesegerät, einer Art elektronischer Lupe, holt sie sich das, was auf der Tafel im Klassenraum steht, so nahe heran, dass sie es auf dem Laptop lesen kann“, beschreibt Katrin Klein. „Dadurch kann sie normal mitarbeiten.“ Und das mit Erfolg: Die Einsen überwiegen. Auf dem Halbjahreszeugnis stand nur eine Zwei.

Viele Tränen bis zur Diagnose

Dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, bemerkten die Eltern, als Helene drei Monate alt war. „Beim Füttern ist mir schlecht geworden, von dem Zittern ihrer Augen. Das kann nicht normal sein“, erzählt die Mutter zurückblickend.

Bis die Diagnose feststeht, sollten dreieinhalb Jahre vergehen, in denen viele Tränen flossen. Auch bei Helene, die die endlosen Untersuchungen heute als „nervig“ abtut.

Auch ihre Eltern gerieten an Grenzen des Erträglichen. Und das gleich zu Beginn nach der Diagnose einer Kinderärztin: „Mein Kind sei blind“, lautete diese. „Da bin ich erst mal zusammengebrochen“, erinnert sich Katrin Klein, als wäre es gestern gewesen.

Ein bewegender Moment

Es wurden andere Ärzte aufgesucht. Plötzlich hieß es: „Das Kind ist nicht blind, aber es hat irgendwas.“ Es folgten weitere Untersuchungen. Mal war von Hirntumor die Rede, mal von Augentumor. „Daraufhin haben wir die Frühförderung in Anspruch genommen“, erzählt Katrin Klein. „Es gab neue Tests. Dabei wurde festgestellt, dass Helene farbenblind ist und extrem lichtempfindlich.“ Aus Vorsicht wurde ihr eine Sonnenbrille aufgesetzt. „Plötzlich sah Helene etwas. Sie hat uns an die Hand genommen und ist mit uns durch das Dorf gegangen und hat sich alles angeschaut. Das war ein wirklich bewegender Moment für uns.“

Die Ursachenforschung war damit nicht beendet. Eine Augenärztin in Dresden vermittelte den Kontakt zu einem Studienfreund in Gießen. „Nach sechs Stunden und zahlreichen Untersuchung wurde uns gesagt: Ihr Kind hat Achromatopsie. Wir waren erst mal ratlos.“ Der Professor beruhigt: Helene könne normal aufwachsen. Sie sieht nur eben alles schwarz-weiß und braucht immer eine spezielle Brille. Das war’s. Aus dem Kind könne etwas Tolles werden, es hat alle Möglichkeiten, versicherte er. „Wir haben uns so gefreut, dass wir endlich eine Diagnose hatten und wussten, wie wir unserem Kind helfen können“, waren die Eltern erleichtert.

Die Ursache von Helenes Krankheit ist ein Gen-Defekt. Der entsteht, wenn Vater und Mutter eine bestimmte Veranlagung haben und diese miteinander verschmelzen. „Wir haben bei uns beiden nicht gefunden, dass es so etwas schon mal in der Familie gab.“ Und Johannes, der später geborene Bruder von Helene, ist kerngesund.

Ein eigenes Farben-System

Eine der Herausforderungen war es, Helene beizubringen, Farben zu erkennen. „Es gibt eine offizielle Schriftform ähnlich der Blindenschrift nur eben mit Symbolen, die für Farben stehen. Weil uns das anfangs zu kompliziert war, haben wir unser eigenes System entwickelt“, schildert Katrin Klein. So steht zum Beispiel ein ausgemaltes Herz für Rot, ein leeres Herz für Gelb und ein Herz mit Kreuz für Orange. „Das musste Helene auswendig lernen.“ Damit sie anhand der Symbole auch die Farben von entsprechend von der Mutter markierten Alltagsgegenständen wie Buntstiften oder von Buchinhalten erkennen kann.

Die Eltern von Helene sind froh, dass ihre Tochter so gut mit ihrer Krankheit klar kommt. Sie wissen aber auch, dass Achromaten immer jemanden brauchen werden, der bei ihnen ist. „Diejenigen, die wir kennen, haben immer einen Partner an der Seite.“ Sobald sie ihr gewohntes Umfeld verlassen, benötigen sie Hilfe.

Anderen helfen, selbst Hilfe erhalten

Seit vergangenem Jahr ist Katrin Klein Beisitzerin im Achromatopsie Selbsthilfe e. V., dessen Mitglieder vor allem in den alten Bundesländern leben. Sie hat vor, diese Krankheit im Osten bekannter zu machen. „Ich kann anderen helfen“, begründet sie ihr Engagement. „Ich hole mir über die Kontakte im Verein aber auch selbst Hilfe.“

Dass es den regulären „Tag der Seltenen Erkrankungen“ nur alle vier Jahre gibt, dazwischen fällt dieser Tag auf den 28. Februar, das findet Katrin Klein zwar schade. „Man kann es aber auch so sehen: Der 29. Februar ist selten. Es gibt ihn nur alle vier Jahre. Die seltenen Krankheiten sind ebenfalls selten. Deshalb wurde beides zusammengeführt. Das bietet sich an.“ Auch in Erwartung einer größeren Beachtung.

Mehr Infos unter www.achromatopsie.org