Hoyerswerda. Freunde von aus unterschiedlicher Perspektive erzählten „Mein-Tag“-Geschichten hätten am Dienstag im Amtsgericht bei einer Fortsetzungsverhandlung Freude gehabt. Version 1: Zufällig anwesende Ordnungshüter erkennen am 5.6.2021 an der star-Tankstelle aus den Augenwinkeln, aber unzweifelhaft, dass ein vorüberfahrender Unternehmer a) unangeschnallt und b) am Handy tätig ist.
Verfolgung des stadteinwärts Fahrenden! Doch nach Ampel-Halt an der Bautzener Brücke beschleunigt er, biegt nach einem Haken rechts am ZDF-Brunnen widerrechtlich links in die Spremberger Vorstadt (eine Anwohnerstraße) ein, ignoriert Haltesignale („Kelle“, Blaulicht) und entkommt über Alte Berliner Straße und Rewe-/Aldi-Parkplatz, vor dem die Polizisten, um niemanden zu gefährden, die Verfolgung einstellen. Aber man hat ja das Kennzeichen! In der Folge erstellt die Stadtverwaltung, zusammenrechnend alles Geschilderte, einen Bußgeldbescheid: 100 Euro.
Nun Version 2, der Betroffene: Angeschnallt und nicht per Handy telefonierend, er habe ja eine Freisprechanlage, sei er keineswegs vor dem Polizei-Zivilfahrzeug geflüchtet; habe weder Kelle noch Blaulicht gesehen. Dass an der Kreuzung bei „Grün“ beschleunigt werde (zumal von einem eSmart, den er nutzte), sei nicht unüblich. In der Anliegerstraße habe er einer Angestellten, wie seit Jahren üblich, dienstliche Unterlagen überbringen wollen (also ein „Anliegen“ gehabt), aber, da er anhand des nicht anwesenden Pkws der Frau erkannt habe, dass diese nicht zu Hause sei, habe er den Vorsatz aufgegeben und sei weitergefahren.
Gegensätzlicher geht’s nimmer. Da der Bußgeldbescheid nach Ansicht von Hagen D., Anwalt des beschuldigten Unternehmers Veit B., eine Reihe von Formfehlern enthielt, beispielsweise die Tatortbeschreibung, und es widersprüchliche Aussagen der Polizisten bei der Erst-Verhandlung gegeben habe, sei das Verfahren einzustellen.
Ganz anders sah das Amtsrichterin Ines Lettau. Nicht nur, dass sie vollinhaltlich die Darstellung der Polizei als einzig glaubwürdig wertete; Zeugenaussagen zugunsten von Veit B. und von ihm vorgebrachte vermeintliche Beweisfotos verwarf – sie zerlegte den Vorgang (gegen die ausdrücklich bekundete Auffassung des anwesenden Vertreters der Stadt) in drei Einzeltaten: Telefonieren 100 Euro, Nichtanschnallen 30 Euro, Anliegerstraße 20 Euro, so dass am Ende ein Bußgeldbescheid von 150 Euro stand.
Veit B. war fassungslos: „Ich verstehe die Welt nicht mehr“. Er wird wohl in Berufung gehen.
Die Ein-Stundenkilometer-Härte
Hoyerswerdaer Fall könnte Kreise ziehen bis hin zum Bundesverfassungsgericht.
Hoyerswerda. Das hat man nicht aller Tage: Unmittelbar nach der Verhandlung gegen Veit B. (siehe oben) fand sich dessen Anwalt Hagen D. selbst auf der Anklagebank.
Hagen D. soll am 26.2.2021 von einem mobilen Blitzer des Landratsamtes Bautzen am Ortsausgang von Groß Särchen gen Bautzen mit 74 km/h statt zulässigen 50 km/h erwischt worden sein. Abzüglich der Toleranz von 3 km/h standen 71 km/h, mithin 21 km/h zu viel, im Bußgeldbescheid des Amtes.
Hagen D. und sein Anwalt Markus Domaschke hielten gegen: Das Messgerät des Landratsamtes speichere keine Rohdaten! Sprich: Beweiskräftige Mittel seien nicht mehr vorhanden. Nur anhand des „Beweis“-Fotos lasse sich nicht letztgültig sagen, ob es wirklich 74 respektive 71 km/h oder doch weniger gewesen sein könnten. Zum einen fehle dem Foto der Zeitstempel, zum anderen sei die „fotogrammatische Betrachtung“, anhand derer die Rekonstruktion des Geschehens erfolgt sei, von der (fragwürdigen) Qualität des Fotos abhängig. Drittens seien zwei Gutachter, unabhängig voneinander, zu (wenngleich geringfügig) anderen Ergebnissen dieser Tempo-Nachberechnung gekommen – und hätten ihre Ergebnisse als „plausibel“, aber nicht als „beweiskräftig“ eingeordnet. Was sie auch gar nicht konnten, da der Gerätehersteller einen Einblick in die Interna der Software verweigert habe. Angesichts aller dieser Unschärfen sei das Prinzip „in dubio pro reo“ („im Zweifel für den Angeklagten“) anzuwenden und ein nochmaliger Toleranzabzug in Anwendung zu bringen, so dass unterm Strich ein Verstoß von nur 20 statt 21 km/h stehe.
So ein Aufwand für 1 km/h, für Bußgeld 55 statt 80 Euro? Nein. Denn ab 21 km/h zu viel in geschlossenen Ortschaften ist zusätzlich ein Punkt in Flensburg die Folge. Ärgerlich immer; besonders, wenn das persönliche Konto dort, wie Amtsrichterin Ines Lettau zitierte, von einem (zeitlich fernen) Vorgang her schon mit einem Punkt belastet ist. Sie blieb dennoch hart: 21 km/h seien es mindestens gewesen! Einspruch gegen den Bußgeldbescheid abgelehnt!
Doch klagte sie, zur Rohdaten- (nicht-)Speicherung sei wünschenwert, dass Oberlandes- oder Bundesverfassungsgericht feststellten, ob das Folgen für die Weiterverwendbarkeit der Restdaten habe.
Vielleicht wird ihr Wunsch erfüllt. Hagen D. überlegt, eine Revisionszulassung des Urteils zu beantragen. Für Sachen mit Streitwert unter 200 Euro nur in Ausnahmefällen zulässig. Aber hier geht es ja nicht nur um 80 oder 55 Euro, sondern um bisweilen Existenzielles.