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„Ich hatte Angst, dass ich selber Täter werde“

Die Klinik am Waldschlößchen therapiert seit zehn Jahren Menschen mit Traumata. So wie den früheren Ermittler Wolle.

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© Christian Juppe

Von Franziska Klemenz

Wolle weint. Endlich. Bis vor zwei Jahren schrie er. Aber nur nachts, im Schlaf. Wenn die Bilder kamen. Am Tag seine Sucht, nachts Folter. „Ich hatte Albträume, habe um mich geschlagen, hatte schon Angst, meine Frau im Schlaf zu schlagen“, sagt der 59-Jährige. Er beugt sich aus dem schwarzen Ledersessel zu einem gläsernen Tisch, zieht ein Taschentuch aus dem Karton. Eine bunte Mini-Armee aus Matroschka-Puppen, stacheligen Hand-Gymnastikbällen und Engelsfiguren reiht sich um den Taschentuch-Karton. Die Stützräder der Therapie bei Franka Mehnert, der sich Wolle seit zwei Jahren stellt. Zum dritten Mal besucht er die Klinik am Waldschlößchen, diesmal zur Stabilisierung.

Vergessen, um zu überleben

Strandurlaube und Spielplätze wurden seine Horror-Kulissen. „Ich habe überall die Kinder gesehen“, sagt Wolle, der seinen vollen Namen lieber verschweigt. 15 Jahre seines Lebens ermittelte der gebürtige Franke für die Polizei. „Mein Sachgebiet war Internetermittlung.“ Sein Hals wölbt sich, er schluckt und guckt zu Boden. „Im Bereich der Kinderpornografie.“

Jeden Tag Bilder von Vergewaltigungen, Videos mit schreienden Kindern. Und die Gewissheit, dass es weitergeht. Vereinsamendes Material, das niemand sehen wollte. „Muss ich nicht sehen, ist schon ok, schreib mal deinen Bericht“, sagten Kollegen. „Es wurde wie eine Sucht. Ich wollte immer mehr Beweise, immer schwerwiegendere, damit die Täter länger hinter Gitter kommen. Aber das hat alles nichts gebracht. Mir zu sagen, dass ich die Welt nicht verändern kann, hat auch nichts gebracht. Irgendwann hatte ich Angst, dass ich selber Täter werde, Selbstjustiz übe.“

Freunde wendeten sich ab, weil es mit Wolle nur noch um das Eine ging. „Ich konnte es selbst nicht verstehen: Ein Mann wie ein Baum, und völlig kaputt.“ Wenn Wolle den Baum als Metapher nutzt, schwingt eine lang verdrängte Erinnerung mit. Wieder Bilder. Sein Hirn hatte sie ins Nirvana geschickt, aus Selbstschutz. Mit 17 sitzt er auf dem Beifahrersitz, sein älterer Bruder rast gegen einen Baum. „Ich habe das Bild von meinem Bruder noch vor Augen.“ Der Körper – zerteilt. Wolles Hirn löschte die Information. Nach anderthalb Wochen stehen die Eltern in schwarzen Kleidern im Krankenhaus, erzählen ihm vom Tod des Bruders. Wolle wusste nichts mehr. „Ich konnte nicht trauern. Ich habe nichts gespürt“, sagt er. Eine Träne läuft ihm über das zuckende Kinn.

Wenn Menschen traumatische Ereignisse aus ihrem Bewusstsein spalten, sprechen Therapeuten von Dissoziation. Eine Überlebensstrategie. „Bei der Therapie ging es darum, den Trauer-Prozess nachzuholen“, sagt Wolles Therapeutin Franka Mehnert. „Sich emotional damit auseinanderzusetzen. Es neu bewerten zu können.“ Wie schlecht es ihm ging, zeigte Wolle sein Körper. Operationen an der Bandscheibe, an Hals- und Lendenwirbeln. „Irgendwann ging mir auf, dass die Ersatzteile durch die Psyche nötig waren.“ Ärzte an der Ostsee empfahlen ihm die Klinik in Dresden, die ihr zehntes Jubiläum gerade mit einer Themenwoche feiert. Schwerpunkt der Behandlung: Posttraumatische Belastungsstörungen. „Vor meiner Diagnose hatte ich davon nie gehört“, sagt Wolle. „Das ist das Teuflische. Man merkt nicht, dass man sich kaputt macht.“

Als Single taucht die Diagnose niemals auf. Depression und Sucht umgeben sie wie Bodyguards, die sich der Heilung in den Weg stellen. Schatten, die auf vielen Menschen lasten. „Das hat mich in der Klinik so überrascht. Ich dachte, die anderen Patienten wären alles kleine, verweichlichte Mickey-Mäuse, die gestreichelt werden müssen“, sagt Wolle. „Aber das waren Menschen, wo ich draußen gesagt hätte: Die sind gar nicht krank. Man sieht es ja nicht. Es gibt keine Wunden, keinen Verband.“ Aber Chancen auf Heilung. Durch Einzel-Sitzungen, durch Arbeit im Team. Geteiltes Leid. „Für mich gibt es keine Alternative zu dieser Klinik. Ich weiß heute, dass ich es nicht verhindern hätte können, egal wie viele Hinweise ich über die Täter sammle“, sagt Wolle. „Auch den Tod meines Bruders nicht. Heute kann ich um ihn trauern.“

Wolle weint, endlich. „Vor zwei Jahren hätten Sie einen Stein vor sich gehabt. Niemals hätte ich geweint“, sagt Wolle, der seit Juli Rentner ist. Seine gelöschten Erinnerungen hat er zurückerobert. Seine beruflichen Erinnerungen dürfen langsam verschwimmen. Andere bekommen wieder Hauptrollen im Gedankenspiel. „Ich denke gerne an die Zeit zurück, bevor ich zur Wasserschutz-Polizei kam. Ich war Seefahrer, sah die Welt von Nordpol bis Atlantik. Das Türkis zwischen den Eisbergen – das werde ich niemals vergessen.“