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Igel in Gefahr

Eine Familie muss zusehen, wie ein Igel an Schneckengift zugrunde geht. Chemie in Gärten bedroht nicht nur seine Art.

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© Sven Ellger

Von Franziska Klemenz

Ein Schrei sticht durch die Dunkelheit. Helena und ihre Familie kommen gerade zur Tür herein. Ein Frühsommer-Abend, etwa 22.30 Uhr. „Wir dachten erst, es müsste ein Baby sein. Dann sind wir raus gerannt“, sagt die Zwölfjährige. In der Dunkelheit ihres Gartens in Plauen wälzt sich etwas Kleines hin und her. „Da war was Helles. Erst als wir näher hingelaufen sind, haben wir entdeckt, dass da ein Igel liegt.“ Das Helle ist Schaum. Er blubbert aus dem Mund der kleinen, stacheligen Kugel. „Er hat immer weiter geschrien und sich gekrümmt. Das war so furchtbar.“

Die Familie eilt zur Nachbarin, die sich schon häufiger um Tiere gekümmert hat. Annette Büchner-Reiche greift nach Tüchern, wickelt das Tier darin ein und ruft eine Tierärztin. „Wir mussten zusehen, wie er elendig verendete“, sagt Büchner-Reiche. „Die Ärztin war noch auf dem Weg, da ist der Igel gestorben.“ Gegen 0 Uhr hört das Zucken auf. Im Tageslicht des nächsten Morgens fotografieren sie den Igel. Eine blaue Flüssigkeit läuft aus ihm heraus.

Blaue Flüssigkeit war der Beweis

Knapp zwei Monate später. „Mich hat das damals ganz schön beschäftigt“, sagt Büchner-Reiche und kramt das Foto heraus. „Ich konnte das nicht einfach auf sich beruhen lassen.“ Die Türglocke schellt, Tierärztin Tanja Schewe kommt hinzu. Sie betreibt die Tierpraxis Mobil, war in jener Nacht unterwegs, um den Igel zu retten. „Als ich hörte, dass er Schaum vor dem Mund hat und krampft, war klar, dass es sich wahrscheinlich um eine Vergiftung handelt“, sagt sie. Die blaue Flüssigkeit war der Beweis: Schneckengift hat den Igel getötet. Fälle wie diesen erlebt die Ärztin häufiger. „Auch Hunde sterben immer wieder an Schneckengift.“

Büchner-Reiche forschte weiter. Im nächsten Baumarkt muss sie nicht lange stöbern, um auf Schneckenkorn zu stoßen. Sie liest die Angaben auf Verpackungen von mehreren Herstellern durch. Die entwarnen: Für Igel bestehe keine Gefahr. Die Angaben entsprechender Hersteller im Internet bestätigen das: „Schont Nützlinge: unbedenklich für Igel und Bienen“, steht etwa auf der Website des Herstellers Bayer Garten. „Schont Igel und andere Nützlinge“, entwarnt der Hersteller Compo. Und verspricht zugleich: „Geringe Aufwandmenge, wirtschaftlich“ oder: „gute Lockwirkung und Köderaufnahme“.

Die Produkte beider Hersteller töten Schnecken durch den Wirkstoff Metaldehyd. Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit kommt in einem Report aus dem Jahr 2010 zwar zu dem Schluss, dass der Wirkstoff unter den vorgegebenen Anwendungshinweisen für Bienen nicht gefährlich sei, warnt aber gleichzeitig davor, dass Metaldehyd für Haustiere sehr wohl giftig sei.

Gleiches ist auf den Verpackungen von Schneckengift-Herstellern immer wieder zu lesen. „Das ist ein Widerspruch. Warum sollte das gleiche Gift für Haustiere gefährlich sein, für Wildtiere aber nicht?“, sagt Cornelia Schicke von der Igelhilfe Radebeul, die zum Naturschutzbund (NABU) Dresden gehört. Auch Büchner-Reiche wollte von den Herstellern wissen, wie sie zu dem Schluss kämen, Schneckengift sei für Igel ungefährlich. Sie schrieb an zwei große Hersteller, schilderte den Fall des Igels aus ihrer Nachbarschaft.

Beide haben zurückgerufen. „Der eine hat sehr bedauert, was passiert ist; sagte, es müsste sich wohl um Altbestände des Gifts handeln. Er würde es an die Marketing-Abteilung weitergeben.“ Der andere, so Büchner-Reiche, hätte bestritten, dass Schneckengift als Todesursache infrage kommt. Igel würden keine Bitterstoffe fressen. Zu Schnecken, die Gift aufgenommen haben, hätten sie keinen Zugang, da diese sich zum Sterben zurückziehen würden.

Büchner-Reiches Sohn Levin und Helena, die den Igel in jener Nacht im Garten fand, teilten Flugblätter aus. „Um das Bewusstsein zumindest in der Nachbarschaft zu schärfen.“ In Bayern stehen Igel schon auf der Roten Liste der Tiere, die vom Aussterben bedroht sind. Gleiches gilt übrigens für manche Schneckenart. „Igel sind reine Insekten-Fresser; wir haben 75 Prozent Insektenrückgang“, sagt Cornelia Schicke von der Igelhilfe Radebeul. „Das wirkt sich auf die Igel aus. Noch dazu die Witterung: zu wenig Wasser – immer wieder kommen dehydrierte Tiere zu uns.“

Ihr Appell an alle Gartenbesitzer: „Bitte verzichten Sie auf Chemie, lassen Sie mehr Unkraut stehen, Pflanzen auch mal verblühen.“ Und: „Stellen Sie Wasser raus, für Vögel, Igel und andere Tiere.“ Im letzten Jahr kamen 605 Tiere zur Igelnothilfe. „In diesem Jahr sind es schon jetzt 130, und dabei kommt die Saison eigentlich erst im August und September, wenn sie Junge kriegen“, sagt Schicke. Die Sterberate der Igel in der Nothilfe sei in diesem Jahr so hoch wie nie zuvor. Ein Viertel schafft es nicht.

www.igelhilfe-radebeul.de

Notruf unter 0157 7470 3272