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Wie Tschetschenien zur Zeitbombe wird

Diktator Ramsan Kadyrow liebt Gewalt und Stars, regiert mit Handy und Pistole. Der Kreml erlaubt ihm viel. Umbrüche dort könnten hohe Wellen schlagen - bis hin zu uns.

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Ramsan Kadyrow (M), Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, und tschetschenische Würdenträger stehen bei einem Festakt zum 200. Gründungstag der Hauptstadt Grosny nebeneinander.
Ramsan Kadyrow (M), Oberhaupt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, und tschetschenische Würdenträger stehen bei einem Festakt zum 200. Gründungstag der Hauptstadt Grosny nebeneinander. © Friedemann Kohler/dpa

Von Friedemann Kohler

Grosny. Im Achmat Fight Club in Grosny hält einer der meistgefürchteten Politiker Russlands Hof. Ramsan Kadyrow, 42 Jahre alt und Oberhaupt der Teilrepublik Tschetschenien, thront auf dem Ehrenplatz. Von dort hat er den besten Blick auf seine Kämpfer im Oktogon genannten Käfig unter ihm. Die Muselmänner messen sich in Mixed Martial Arts, einem Kampfsport mit Vollkontakt: Schlagen, Treten, Würgen - bei den Zweikämpfen ist alles erlaubt.

In den Pausen wischt ein Helfer ungerührt Blut von der weißen Matte. Mixed Martial Arts ist in Russland und besonders im Nordkaukasus sehr populär.

Eine Band spielt bei dieser Veranstaltung im Herbst 2018 Rockmusik. Für Sicherheit sorgen harte Jungs, breit wie Schränke. Trotz Smoking bemühen sie sich vergeblich um ein ehrbares Aussehen. Junge Frauen mit Kopftuch servieren Tee, Wasser, Brause. Härteres gibt es unter Kadyrow nicht offen zu trinken. In der Hauptstadt Grosny geht es fromm islamisch zu.

Russlands offene Wunde

Das winzige Tschetschenien ist seit mehr als 200 Jahren eine offene Wunde in Russland. Welche Gefahr geht von hier für die Zukunft des Riesenlandes aus? Das Zarenreich unterwarf die Tschetschenen im 19. Jahrhundert, Sowjetdiktator Josef Stalin ließ das Volk 1944 nach Zentralasien deportieren. Im ersten Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 erkämpfte die Republik eine wackelige Unabhängigkeit von Moskau.

In einem zweiten Krieg 1999 bis 2009 holte sich Kremlchef Wladimir Putin die Rebellenregion zurück - mit Hilfe der Kadyrows. Nicht Russen, sondern Tschetschenen sollten den islamistischen Untergrund dort befrieden. Die Familien von Rebellen wurden erpresst, ihre Häuser abgefackelt, bis die Männer im Versteck aufgaben.

Erst trat Vater Achmat, ein Mufti, also ein islamischer Geistlicher, im Jahr 2000 an die Spitze. Nach dessen gewaltsamem Tod kam Ramsan an die Reihe. Er war immer nur Sohn, Guerillakämpfer und Leibwächter seines Vaters gewesen. Seit 2007 ist er Oberhaupt der Republik. Sie ist mit 17.300 Quadratkilometern etwas größer als Thüringen, 1,4 Millionen Menschen leben dort. Es gibt flache Steppe und steile Berge im Kaukasus.

Putins Verhältnis zum Kadyrow-Sohn erinnert ans Mittelalter: Lehnsherr und Vasall. "Ich bin ein Soldat Putins", sagt Kadyrow. Mit Billigung des Kremls hat er eine persönliche Diktatur errichtet. Der Auftrag: Ruhe in Tschetschenien um jeden Preis. Um Menschenrechte steht es noch schlechter als im übrigen Russland.

Wenn Kadyrow sich oder Putin angegriffen fühlt, kann das tödlich enden. Beim Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja 2006 in Moskau führte die Spur in seinen Polizeiapparat, ebenso bei den tödlichen Schüssen auf Kremlgegner Boris Nemzow 2015.

Russisches Recht gilt in Tschetschenien wenig. Islamisches Recht und tschetschenische Tradition in Kadyrows Auslegung gehen vor. "Teile der Scharia sind Rechtswirklichkeit", bestätigt Kaukasus-Experte Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik, kurz SWP, in Berlin.

Provinzfürst mit Privatarmee

Es entstand eine Art islamisches Kalifat auf russischem Boden - dazu schwer bewaffnet. 20.000 bis 30.000 Bewaffnete zählen zwar offiziell zur russischen Polizei und zur Nationalgarde. Doch ihre Loyalität gilt Kadyrow, seinem Befehl gehorchen die sogenannten Kadyrowzy. Kein anderer russischer Provinzführer hat eine solche Privatarmee.

Für Moskau zählt, dass die Lage besser ist als früher, selbst wenn sie nicht gut ist. 100 Tote sind besser 1.000 Tote - so pragmatisch denkt Russland.

Kadyrow habe das Land in eine Phase geführt, die man zwar nicht Frieden, aber "Abwesenheit von Krieg" nennen könne, sagt auch der Tschetschenien-Forscher Christian Osthold. Nach Chaos und Gewalt zweier Kriege erscheine dies vielen Tschetschenen als bessere Alternative, erläutert er. "Doch man darf vermuten, dass das gegenwärtige System irgendwann kollabiert." So sehr Moskau wie Grosny Stabilität beschwören: Tschetschenien hat so viel Gewalt erfahren, dass der nächste Konflikt vorprogrammiert scheint.

Dabei kann Deutschland und den anderen EU-Staaten nicht egal sein, wie brutal Kadyrow herrscht. "Er lässt seine Gegner auch im Ausland verfolgen", warnt Halbach. 2016 drohte Kadyrow den Exilanten: "Bei mir ist jedes Wort aufgeschrieben, wir haben Infos über jeden von euch, und wir wissen, wer ihr seid."

Die meisten russischen Staatsbürger, die Asyl in Deutschland suchen, stammen aus Tschetschenien. Die Sicherheitsbehörden beobachten mit Sorge, wer sich hier mischt: Kadyrow-Gegner, verfolgte Islamisten, regimetreue Agenten und Kriminelle. Auch die gefährliche Szene der radikalislamischen Salafisten in Deutschland wird verstärkt von Tschetschenen dominiert.

Seinen Auftritt im Fight Club hat Kadyrow machtbewusst inszeniert. Vier kleine Söhne sitzen artig auf Stühlen im Innenraum. Seine Elite ist versammelt. Auf dem Platz neben ihm wird eifrig gewechselt. Der Herrscher leiht sein Ohr mal dem einen, mal dem anderen Vertrauten, dann müssen sie verschwinden. Neben Kadyrow sitzen bleiben darf an diesem Abend nur Ex-Boxweltmeister Floyd Mayweather aus den USA.

Kadyrow schmückt sich gern mit prominenten ausländischen Gästen aus Sport und Showbusiness. Die Filmgrößen Hilary Swank (44) und Jean-Claude van Damme (58) gastierten gegen Gage schon 2011 in Grosny. Den ägyptischen Fußballstar Mohamed Salah (26) vom FC Liverpool verunsicherte Kadyrow mit aufdringlicher Gastfreundschaft im WM-Quartier 2018 in Grosny. Sieglos schieden die Ägypter aus.

Jungengesicht mit frommer Barttracht

Während im Oktogon gekämpft wird, spielt Kadyrow mit dem Handy. Der Gewaltherrscher hat ein grobes Jungengesicht. Untergründig strahlt es Gefahr aus. Meist trägt Kadyrow unförmige Parkas oder Sportanzüge, irgendwo zwischen Uniform und mittelalterlicher Rüstung. Der dunkelblonde Bart ist überlang, so wie ihn strenggläubige Muslime tragen. Diese Barttracht lassen sich auch seine Anhänger scheren.

Auf einmal springt Kadyrow auf und rennt in den Käfig. Da hat der tschetschenische Kämpfer Beslan Uschukow einen Brasilianer schon nach 45 Sekunden ausgeknockt. Der Diktator jubelt. Er umarmt seine Sieger. Die starken Kerle legen ihm demütig den Kopf auf die Brust.

"Wir wünschen dir, dass du immer an der Spitze der Republik Tschetschenien bleibst", schreit der Kämpfer Dschihad Junussow nach seinem Sieg ins Mikrofon. "Wir sind mit dir bis zum Ende! Allahu akbar!" Andere rufen: "Achmat sila!" (Achmat ist die Macht). Die Anrufung des Kadyrow-Vaters ist neuer Schlachtruf des Regimes.

Gewalt gilt als Kern von Kadyrows Herrschaft. Seine Leute überziehen das Land mit Verschleppungen und Folter. In diesem Januar schlugen Menschenrechtler Alarm: Es wurden wieder schwule Männer festgenommen, gequält oder sogar ermordet - wie 2017 schon einmal.

Die tschetschenische Gesellschaft ist archaisch. Älteste regeln die Angelegenheiten der Familien und der Tajp genannten Clans. Für einen Ältesten ist Kadyrow zu jung, aber er ist seit Jahren ein Meister der Clan-Politik. Schlüsselpositionen hat er mit Vettern und Onkeln besetzt, mit Schulkameraden aus dem Ort Zentoroj, mit Vertrauten.

So sehr sich ein Vergleich mit US-Präsident Donald Trump verbietet: Auch Kadyrow herrscht mit Hilfe des Smartphones, das er kaum aus der Hand legt. Er redet schwerfällig, aber im Internet kommuniziert er geschickt. Er postet Berichte über seine Arbeit, Drohungen oder ein poetisches Loblied auf seine Pistole: "Wie viele flinke Worte aus Blei hast du Feinden und Schurken gesagt." Im Netz ist er ansprechbar. In Grosny kursieren Erzählungen junger Männer, die ihn nachts anschrieben und binnen Minuten ein Jobangebot erhalten haben sollen.