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Lehrermangel: "Die Lage ist in keiner Weise befriedigend"

Am Kamenzer Lessinggymnasium fällt viel Unterricht aus, weil Lehrer fehlen. Der Schulleiter spricht von einer Notlage - und über mögliche Lösungen.

Von Reiner Hanke
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Wolfgang Rafelt ist Leiter des Kamenzer Lessinggymnasiums. Im Interview mit Sächsische.de spricht er über den Lehrermangel an seiner Schule und mögliche Lösungen.
Wolfgang Rafelt ist Leiter des Kamenzer Lessinggymnasiums. Im Interview mit Sächsische.de spricht er über den Lehrermangel an seiner Schule und mögliche Lösungen. © Matthias Schumann

Kamenz. Mit einem Hilferuf per Brief an die Eltern hat Schulleiter Wolfgang Rafelt schon zum Jahresende die schwierige Lehrer-Situation am Kamenzer Gotthold-Ephraim-Lessing-Gymnasium geschildert. Darin bittet er: „Kommunizieren Sie unsere Notlage.“ Er ermuntert die Eltern, sich umzuhören, ob es nicht Interessenten gibt, die am Gymnasium unterrichten möchten. Auch das Landesamt für Schule und Bildung sei um Hilfe gebeten worden.

Das Gymnasium war im Sommer schon mit 60 unbesetzten Unterrichtsstunden ins Schuljahr gestartet, bei allen 5. bis 8. Klassen wurden zwei Wochenstunden gestrichen. Im Interview mit Sächsische.de spricht der Schulleiter über den Lehrermangel, mögliche Lösungen und den bevorstehenden Umzug ins neue Schulgebäude.

Herr Rafelt, was konnten Sie inzwischen erreichen, um die Situation zu verbessern?

Einige Kolleginnen und Kollegen konnten wir gewinnen, von Teil- auf Vollzeit umzusteigen. Außerdem haben wir für den Geschichtsunterricht einen Kollegen aus dem Ruhestand zurückholen können, und wir haben Leistungskurse zusammengefasst.

Zwei werdende Mütter dürfen zwar aus Gründen des Gesundheitsschutzes nicht mehr vor der Klasse stehen, können aber immerhin Online-Unterricht über die interaktive Schultafel geben – aus dem Klassenzimmer nebenan. Eine Notlösung.

"Wir brauchen immer noch zwei bis drei Lehrer mehr"

Hat der Hilferuf an die Eltern etwas gebracht?

Ja, ich denke schon. Wir hatten drei, vier Anfragen von Interessenten. So haben wir ab dem kommenden Halbjahr einen neuen Bio- und Chemielehrer gewonnen. Es gibt noch zwei weitere Anfragen. Das Bewerbungsverfahren ist aber noch nicht abgeschlossen, der Ausgang unsicher.

Aber das reicht sicher noch nicht?

Wir haben auch Unterstützung aus anderen Schulen erhalten. Zwar nicht unbedingt in den richtigen Fachrichtungen, sodass wir in großem Umfang Lehrer umdisponieren mussten. Wir konnten vorerst eine Reihe Stundenkürzungen zurückfahren, aber nicht vollständig. In den Fächern Physik, Sport, Ethik und Religion gibt es immer noch Kürzungen verteilt über die Klassenstufen 5 bis 8.

In der Oberstufe 11/12 wird aber nicht gekürzt, weil der Stoff besonders wichtig fürs Abitur ist. Gar nicht zu lösen ist derzeit das Defizit bei Physik und Informatik. Die Situation ist in keiner Weise befriedigend. Wir brauchen immer noch zwei bis drei Lehrer mehr.

"Es trifft alle Schulen und uns gerade besonders"

Etliche der Maßnahmen sind ja keine dauerhaften Lösungen. Die „geborgten“ Pädagogen gehen zurück, der Ruheständler bleibt nur auf Zeit, für die werdenden Mütter schließt sich die Elternzeit an…

Wir werden die fehlenden Stellen im Frühjahr ausschreiben. Wie groß das Defizit im kommenden Schuljahr sein wird, hängt auch von den Anmeldungen für die fünften Klassen ab. Rechnen wir mit vier fünften Klassen, fehlen sechs Lehrer in Vollzeit. Das ist schon viel im sachsenweiten Vergleich. Derzeit ist die fünfte Klassenstufe bei uns sogar fünfzügig. Wenn es erneut darauf hinauslaufen sollte, brauchten wir sogar sieben oder acht Lehrer mehr in Vollzeit - vor allem für Mathe/Physik und Informatik. Für diese Fächer gibt es die wenigsten Bewerber.

Warum?

Es sind schwierige Fachrichtungen. Daher entscheiden sich zu wenige junge Leute für diese Fächer, oder sie sind dann im Studium überfordert.

Weshalb ist die Situation an Ihrer Schule so dramatisch?

Das trifft alle Schulen im Bautzener Raum und uns gerade besonders. Die Absolventen wollen lieber in die Städte wie Leipzig und Dresden. Gerade unsere Nähe zur Landeshauptstadt kann da auch kontraproduktiv sein und eine Ursache für unsere Situation. Die Informatiker lockt zudem auch noch die Wirtschaft. Da können wir finanziell nicht mithalten. Dazu kommt, dass zwei Kolleginnen in die Elternzeit gegangen sind und ein Referendar abgesagt hat.

"Die Pandemie ist nicht das Problem"

Verschärfen Corona-Fälle beziehungsweise der Krankenstand das Problem?

Die Pandemie ist in der Beziehung nicht das Problem. Wir haben Glück, dass kaum Lehrer krank sind. Käme das noch hinzu, wären wir schnell bei über 100 Ausfallstunden. Zu dem niedrigen Krankenstand trägt sicher bei, dass fast 95 Prozent der Lehrer gegen Corona geimpft sind. Außerdem gehen wir alle viel gesundheitsbewusster miteinander um.

Und bei den Schülern?

Täglich melden sich 40 bis 50 Schüler krank. Das ist tatsächlich etwa das Doppelte wie in normalen Zeiten, aber von den Erkrankungen her sehr gemischt. Zu Erkältungen und Magen-Darm-Problemen kommt nun noch Corona. Mit Corona haben wir momentan leicht steigende Zahlen, aber nicht besorgniserregend, täglich nur zwei bis vier Fälle. Kein Vergleich mit dem Ende des Vorjahres. In der Spitze hatten wir knapp 18 Prozent erkrankte Schülerinnen und Schüler, einschließlich der Corona-Fälle. Allerdings hatten die meisten keine oder kaum Symptome.

Ihr Gymnasium liegt bisher am Rande der Stadt, bekommt aber ab dem nächsten Schuljahr einen neuen innenstadtnahen Campus. Könnte damit auch Entspannung bei der Lehrersituation eintreten?

Wir versprechen uns Einiges davon. Viele Wege verkürzen sich. Wir können besser mit der Stadt und sozialen Einrichtungen zusammenarbeiten. Der Anschluss an Bus und Bahn ist mit dem Bahn-/Busbahnhof ganz in der Nähe bestens. Das ist natürlich auch für Kollegen günstig und könnte sich positiv auswirken.

Was können Sie noch unternehmen?

Wir animieren Schüler: Studiert Lehramt! Außerdem haben wir ein Programm "Schüler für Schüler" angeschoben, um Schwächeren zu helfen und den Stoff zu vertiefen. Dabei können sich Mädchen und Jungen schon mal ausprobieren. Ich kann so ein Modell nur zum Nachahmen empfehlen. So haben wir einige ehemalige Schüler im Kollegium, die an ihre eigene Schule zurückgekehrt sind, ich gehöre ja selbst dazu.

Wir wenden uns auch an Fachleute mit naturwissenschaftlichem Hochschulstudium, um sie als Seiteneinsteiger zu gewinnen, und an Studenten, die sich im Programm Unterrichtsversorgung stundenweise etwas dazu verdienen könnten.

"Mehr Einheitlichkeit im Bildungswesen wäre gut"

Wo sehen Sie beim Freistaat Handlungsbedarf?

Dringenden Handlungsbedarf sehe ich bei Einstellungsverfahren, insbesondere beim bürokratischen Aufwand. Auch eine deutlich bessere Studienlenkung für das Lehramtsstudium hin zu dringend benötigten Fächern fände ich gut. Deutschlandweit kritisiere ich die festgefahrenen föderalen Strukturen im Bildungswesen.

Der Wechsel eines Schülers oder Lehrers von einem Bundesland in ein anderes stellt eine Herausforderung, ja ein Abenteuer dar, wenn es denn überhaupt möglich ist. Ich wünschte mir sehr viel mehr Einheitlichkeit im Bildungssystem eines Landes. Es würde viele Hindernisse und Hürden abbauen und viel Geld sparen.

Nun steht bald der Umzug der Schule an. Es gab immer wieder Diskussionen, der Neubau sei zu klein. Kommen alle Schüler unter oder ist noch ein Anbau nötig?

Wir passen mit allen Schülern in den Gebäudekomplex. Das sage ich definitiv. Alles andere wird sich zeigen, je nachdem, wie sich die Schülerzahl entwickelt. 2016 hatten wir den niedrigsten Stand mit 675 Schülern, seitdem steigen die Zahlen langsam. Wir sind jetzt bei 750. Wohin der Trend geht, ist schwer zu sagen.

Ich sehe es nicht dramatisch. Wenn der Platz tatsächlich nicht reicht, sehe ich aber andere Lösungen, um eine solche Situation zu überbrücken. Gegenüber befindet sich das Sparkassengebäude mit guten Räumlichkeiten. Auch das Berufsschulzentrum könnte eine Alternative sein. Ich sehe für den Campus augenblicklich überschaubaren Handlungsbedarf, dafür aber enorm viele Chancen und Möglichkeiten.