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Hinter der Grenze wurde es farbiger

Im vierten Teil des großen SZ-Interviewprojekts "Kunstszene Ost" sprechen wir mit der Leipziger Künstlerin und Kunstprofessorin Annette Schröter.

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Annette Schröter
Annette Schröter © Thomas Kretschel

Frau Schröter, Ende März endet ihre Zeit als Professorin für Malerei und Grafik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, an der sie bei Bernhard Heisig studierten. Haben Sie etwas von seiner Art zu lehren, übernommen?

Ich habe mir vor allem abgeguckt, was ich anders mache. Ich brülle selten oder nie! Neulich erst habe ich zu meinen Studenten gesagt: "Ihr könnt froh sein, dass ich euch nicht in die Bilder reinmale!" Wenn Heisig etwas nicht gefallen hat, hat er Farblappen und Terpentinflasche genommen und das so gemalt, wie er sich das vorgestellt hat.

Ungefragt?

Ungefragt! Das war ein völliges Eigentor, da wir uns an das, was er ins Bild gemalt hat, nicht mehr rantrauten und versucht haben, uns dem anzupassen. Am Ende malten wir alle ein bisschen ähnlich.

Wie viele Frauen haben damals in der Klasse studiert?

Wir waren 20 Prozent, wenn überhaupt.

Hat Heisig da einen Unterschied gemacht?

In der Beurteilung nicht, aber er war lieber bei den Jungs im Atelier. Bei uns Mädchen war er mit den Konsultationen immer sehr schnell fertig. Mich hat das nicht gestört, im Gegenteil. Ich war damals sehr schüchtern und er einigermaßen polternd. Er war eine Persönlichkeit und seine Stimme war von Gewicht. Am Abend, bevor seine Bilder nach Westdeutschland zu Ausstellungen gebracht wurden, lud er uns ins Atelier ein. Da gab es Wein und Schnittchen, und wir konnten es uns ansehen. Draußen standen die Lkws der West-Spedition.

Welche Rolle spielte der sozialistische Realismus in der Lehre?

In der Fachklasse konnten wir relativ frei tun und lassen, was wir wollten. Es gab keine thematischen Vorgaben. Wir haben viele Porträts und Gruppenbilder von Menschen in verschiedensten Situationen gemalt. Die Frage nach der Abstraktion stellte sich kaum für die, die da anfingen zu studieren, weil klar war, dass es um Figürlichkeit bzw. Gegenständlichkeit ging.

Annette Schröter bei ihrer Diplomverteidigung im Juli 1982 an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst.
Annette Schröter bei ihrer Diplomverteidigung im Juli 1982 an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. © Erasmus Schröter

1983 haben Sie die "Frau in Uniformkleid" gemalt. Wie kam es dazu?

Aus reiner Wut! Die DDR wollte damals die Wehrpflicht für Frauen einführen. In der Zeitung wurde das Kleid angepriesen, als würden wir uns auf einer Modenschau in Paris befinden. Wir mussten im zweiten Studienjahr für sechs Wochen zum militärischen Dienst in ein Lager. Das war eine ätzende Zeit. Mit viel Wut im Bauch habe ich mein eigenes Uniformkleid gemalt. In Altenburg gab es im Lindenau-Museum die Reihe "Junge Künstler des Bezirkes Leipzig". Dafür habe ich das Bild 1983 eingereicht, aber es wurde aus politischen Gründen abgelehnt. Heisig setzt sich dafür ein, dass es doch gezeigt wurde. Das Aufsichtspersonal hat mir später erzählt, dass das Bild jedes Mal, wenn eine wichtige Delegation kam, ins Lager getragen werden musste. Was es da für eine Angst vor dem Bild einer unbekannten jungen Malerin gab!

Ein anderes Bild ist 1983 entstanden: "Zwei Frauen im Schnee – oder Scheiden tut weh".

Das Bild bezieht sich auf meine damals beste Freundin. Mit ihrem Mann und einem Freund ist sie in Ungarn ins Wasser gegangen und hat sich in der Donau bis nach Jugoslawien treiben lassen, acht Stunden lang, ausgerüstet mit guten Anzügen, die sie von westdeutschen Freunden bekommen hatten. Wir haben dann lange nichts voneinander gehört. Zwei Monate später sind sie in West-Berlin gelandet und haben wieder Kontakt zu uns aufgenommen.

Was waren ihre Gründe für die Flucht?

Das waren unser aller Gründe: Die Unzufriedenheit mit diesem Land und das wir da eingesperrt waren. Die Geister in Kunst und Kultur waren alle Kleingeister, die verwaltet und bestimmt haben. Denen wollten wir uns nicht aussetzen, nicht von ihnen abhängig sein. Ich wollte reisen, wenn ich Geld und Lust hatte.

Annette Schröter im Jahr 1984 in ihrem Atelier in der Leipziger Hammerstraße.
Annette Schröter im Jahr 1984 in ihrem Atelier in der Leipziger Hammerstraße. © Erasmus Schröter

Sie und ihr Mann Erasmus haben sich nach dem Diplom für den offiziellen Weg eines Ausreiseantrags entschieden. Hatte dieser unmittelbare Folgen für Ihr Leben in der DDR?

Bei den wenigen Möglichkeiten, die es gab, um offiziell an Ausstellungen teilzunehmen, wurden wir sofort aussortiert. Ich habe dann Postkarten meiner Arbeiten drucken lassen, um sie auf diesem Weg zu verbreiten. Auch die Aufnahme in den Verband bildender Künstler fiel flach. Uns wurden die Ausweise weggenommen, damit wir nicht mehr ins Ausland fahren konnten. Während wir warteten, schwappte die Ausreisewelle an uns vorüber. Aber wir durften nicht gehen. Wir wurden mürbe gemacht.

Wie hat es am Ende geklappt?

Ich hatte plötzlich einen Fan: Die wenigen Dinge, die ich ausstellen konnte, hatte ein Österreicher in einer Galerie in Halle gekauft. Und dieser Mann war der Handelsrat der Republik Österreich. Wir hatten uns einmal kennengelernt, als er zur Messe in Leipzig war. Und als es dann mit der Ausreise nicht voranging, haben wir gedacht: "Der Mann muss uns jetzt helfen!"

Wie sah diese Hilfe aus?

Ich habe ihn in der österreichischen Botschaft in Ost-Berlin aufgesucht und unsere Situation geschildert. Die Republik Österreich war zur DDR relativ neutral gestellt. Gute diplomatische Beziehungen waren angesagt. Immer zum Neujahrsempfang wurden dem Honecker Namen von denen übergeben, die raus wollten. Zwei Monate später haben uns diejenigen, die uns vorher zusammengeschissen hatten, wieder in die Abteilung Inneres geladen. Da hieß es plötzlich: "Familie Schröter, wann möchten Sie denn ausreisen?" So sind wir 1985 schließlich raus gekommen.

Konnten Sie Ihre Kunst mitnehmen?

Ja, aber vorher kam eine Kommission, um sicherzugehen, dass es kein Kulturgut war. Komplizierter war es bei meinem Mann. Ihm wurde etliches aus seinen Mappen raus genommen, Fotos, von denen man wahrscheinlich nicht wollte, dass man die im Westen sieht.

Im August 1985 sind Sie dann schließlich in den Zug nach Hamburg gestiegen. War das Ihre erste Westreise?

Ja. Als wir über die Grenze fuhren, wurde die Welt plötzlich irgendwie farbiger. Das fiel mir sofort auf. Es war nicht unangenehm, aber es war nicht so, dass ich gejubelt hätte. Vielleicht, weil wir so lange darauf gewartet hatten.

Warum gingen Sie nach Hamburg?

Erasmus hatte als junger Mann auf einer Reise nach Prag eine Hamburgerin kennengelernt. Wir wussten, dass wir bei denen würden unterschlüpfen können. West-Berlin sollte es nicht sein. Die meisten Ostdeutschen gingen nach West-Berlin, vor allem die aus der Kunstszene. Wir hatten keine Lust darauf, wieder da drin zu landen. Und West-Berlin lag eben mitten in der DDR. Wenn man ins Ausland wollte, musste man ständig wieder über diese Grenze.

Mit welcher Haltung begegnete man Ihnen in Hamburg? Hatten Sie einen "Ostbonus"?

Unsere Freunde haben sich viel Mühe gegeben und uns die Stadt vertraut gemacht. Wir haben fast durchweg positive Erfahrungen gemacht mit angenehmen Menschen, die nicht aufdringlich, aber sehr zuverlässig waren. Ich habe immer noch Kontakt zu einem Sammler, einem Reeder. Das werde ich nie vergessen: Als 1989 so viele über Ungarn abgehauen sind, da hat er mich angerufen und sagte: "Annette, wenn von dir Freunde oder Bekannte dabei sind – die Kinder sind bei uns alle aus dem Haus, da oben sind drei Zimmer leer. Die können erst mal alle bei uns einziehen, da müssen die nicht in irgendein Lager!" Da sind tatsächlich Freunde von uns eingezogen, denen er die Berufslaufbahn geebnet hat.

Wie ging es für Sie beruflich in Hamburg weiter?

Ich hatte vor dem Studium in Meißen eine Ausbildung zur Porzellanmalerin gemacht. In Hamburg habe ich in den "Gelben Seiten" unter "P" geguckt und eine kleine Porzellanbude gefunden. Die haben mich mit Kusshand genommen! Der Witz an der Sache war: Die Chefin kommt mir entgegen und spricht das reinste Sächsisch! Die kam aus Grimma und hatte fünf Jahre zuvor einen Hamburger geheiratet. Zwei Tage die Woche bin ich am Anfang dahin gegangen und die haben mich sehr gut bezahlt.

Einen Kunstmarkt im westlichen Sinne gab es in der DDR nicht. Wie haben Sie sich da orientiert?

Ich habe mir alle Galerien in Hamburg angeguckt, bin zu Eröffnungen gegangen und habe mich umgehört. Es hieß, dass der stellvertretende Direktor der Hamburger Kunsthalle, Helmut R. Leppien, sich für gegenständliche Malerei interessieren würde. Ich habe bei dem wochenlang Telefonterror gemacht, bis ich endlich einen Termin bekam. Er hat sich meine Mappe intensiv angeguckt und auch gute Bemerkungen dazu gemacht. Zum Abschied sagte er: "Na, da hoffe ich für Sie, dass Sie bald begriffen haben, wie das hier mit dem Markt und mit der Kunst läuft, denn das wird ganz schwer! Für mich hoffe ich, dass Sie sich nicht großartig verändern. Auf Wiedersehen!"

Er hat Ihnen keinen Tipp gegeben?

Nein, aber es gab in Hamburg einen Kunstpreis, bezahlt vom Elysee-Hotel. Der wurde alle zwei Jahre von einer hochkarätigen Jury vergeben. Es gab 20.000 DM. Den bekam ich 1986 zusammen mit einer Hamburger Malerin. Und da war der Leppien in der Jury! Da hatte es sich doch gelohnt, dass ich zu ihm gegangen bin.

Hat die Zeit der Warterei auf die Ausreise Sie selbstbewusster werden lassen?

Ja, sicher. Das hat was mit Jugend und Naivität zu tun. Wie sollte man es denn machen? Man musste einfach an Türen klopfen. Ich habe mir auch ganz viele Ablehnungen geholt. Und ich hatte natürlich auch Existenzängste! Wir waren finanziell überhaupt nicht abgesichert. Einmal lernte ich einen kennen, der mir von der Galerie Brockstedt erzählte. Da habe ich was hingeschickt und immer wieder angerufen. Und eines Tages rief der Galerist zurück, hat sich alles angeguckt und gesagt: "Haben Sie schon ein Atelier?" "Nein", sage ich, "ich male noch in der Wohnung." – Er: "Ich komme in einem halben Jahr ins Atelier." Wir haben also ein Atelier gesucht und gefunden und von der Stadt Unterstützung zum Umbau bekommen. Dann hab ich den Brockstedt wieder eingeladen und er hat gesagt: "Ja, das können wir machen! Im Herbst ist die erste Ausstellung." Die Galerie war zwar nicht so angesagt, aber Hans Brockstedt war einer der reichsten Galeristen in Hamburg. Er war Gründungsmitglied der Art Cologne, der Kunstmesse in Köln, auf die er mich mitgenommen hat.

"Zwei Frauen im Schnee - oder Scheiden tut weh" malte Annette Schröter im Jahr 1983, als ihre Freundin in einer gefährlichen Aktion über Ungarn die DDR verließ.
"Zwei Frauen im Schnee - oder Scheiden tut weh" malte Annette Schröter im Jahr 1983, als ihre Freundin in einer gefährlichen Aktion über Ungarn die DDR verließ. © © Annette Schröter, Foto: Thomas Kretschel

Haben Sie Ihre Bilder aus der DDR in Hamburg bewusst zurückgehalten?

Nein, "Zwei Frauen im Schnee – oder Scheiden tut weh" wurde in den 80er-Jahren sogar von der Hamburger Kulturbehörde angekauft.

Das kam einem politischen Statement gleich. Oder haben die nicht verstanden, worum es auf dem Bild geht?

Das habe ich denen schon erklärt!

Die "Frau in Uniformkleid" haben Sie schon 1991 dem Albertinum geschenkt.

Das kam noch in Hamburg zustande, als in der Kleinen Deichtorhalle die Ausstellung "Ausgebürgert" lief. Dort wurde das Bild gezeigt. Werner Schmidt, der damalige Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, war da, und ich dachte: "Da kommt es her und da gehört es auch hin!" Es wurde in den letzten Jahren öfters gezeigt und ist da richtig platziert.

Wann haben Sie Ihre Stasi-Akten angefordert?

Ziemlich schnell, vielleicht im Frühjahr 1990. Für uns war das Wichtigste, zu erfahren, ob Menschen aus unserem Freundeskreis bei dieser Bande mitgearbeitet haben. Wenn das viele gewesen wären, hätten wir den Schritt zurück nach Leipzig nicht gemacht. Es gab nur eine Person, die uns ganz gut beschnüffelt hat. Als wir in Hamburg waren, hatte ich ihm geschrieben. Das hat er alles brav weitergeleitet und Berichte darüber geschrieben, wie es uns in Hamburg geht, ob wir Geld verdienen und Karriere machen. Alles, was ihn betraf, haben wir kopiert und ihm kommentarlos zugeschickt, damit er weiß, dass er bitte Abstand hält, wenn er uns begegnet. Es war für uns wichtig, reinen Tisch zu machen.

Haben Sie mit ihm drüber gesprochen?

Nein, was sollte das bringen?

Annette Schröter 1987 in der Nähe von Hamburg
Annette Schröter 1987 in der Nähe von Hamburg © Erasmus Schröter

Gab es 1989 schon erste Überlegungen, zurück in den Osten zu kommen?

Überhaupt nicht! Um Gottes willen! Wie schnell man entwöhnt war von dieser aschfahlen, anthrazitfarbenen Stadt! In Leipzig war alles dunkelgrau. Wir wollten eigentlich nach Frankreich ziehen. Erasmus, der damals noch viel für Zeitungen und Magazine fotografierte, hatte 1995 einen Auftrag in Leipzig und hat durch Zufall ein Haus zum Kauf entdeckt. Da haben wir uns ganz schnell umentschieden und einen Kredit aufgenommen. 1997 sind wir eingezogen.

Im Jahr 2018 stellten Annette und Erasmus Schröter gemeinsam im Leipziger Bildermuseum aus. "Montevideo" hieß die Schau. Der Fotograf Erasmus Schröter starb am 21. April 2021.
Im Jahr 2018 stellten Annette und Erasmus Schröter gemeinsam im Leipziger Bildermuseum aus. "Montevideo" hieß die Schau. Der Fotograf Erasmus Schröter starb am 21. April 2021. © Thomas Kretschel

Vor knapp 20 Jahren haben Sie mit Papierschnitten begonnen. Wollten Sie sich auf diese Weise dem Hype der Neuen Leipziger Schule entziehen?

Nein! Die Möglichkeiten, die sich dadurch geboten haben, konnte ich nutzen. Erasmus und ich waren bei wichtigen Ausstellungen zu gegenständlicher bzw. figürlicher Malerei aus Leipzig vertreten, obwohl wir sie beide nicht mehr bzw. nie praktiziert haben. Zu den Papierschnitten kam es aus einem recht banalen Grund: Wir hatten mein Atelier als Neubau an das Haus gebaut. Nach einem Jahr stieg dort überall Nässe auf. Die Sanierung hat Monate gedauert. Da habe ich überlegt, bei uns im Wohnzimmer zu arbeiten, aber es war klar, das dürfte keinen Gestank und keinen Dreck machen. Auf dem Flohmarkt habe ich immer so kleine Scherenschnitte gekauft und gedacht: So was könnte ich jetzt machen. Mit Papier, das geht gut am Tisch. Irgendwann habe ich mit dem Malen aufgehört.

Wie fand das Ihr Galerist?

Der hat gesagt: "Das kann ich deinen Sammlern in Hamburg nicht zumuten, das verstehen die nicht!" Ich war in Sorge, wie es weitergehen sollte, denn er hat mich ernährt, auch als wir wieder in Leipzig waren. Dann hat es mit meiner Professur an der HGB geklappt und damit hatte ich mir meine Freiheit im Atelier zurückgeholt.

Interview: Sarah Alberti

Biografisches

  • Annette Schröter wurde 1956 in Meißen geboren. Nach einer Ausbildung zur Porzellanmalerin wurde sie ohne Abitur an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) angenommen, wo sie von 1977 bis 1982 Malerei bei Bernhard Heisig studierte. 1985 reiste sie mit ihrem Mann Erasmus Schröter (1956 – 2021) nach Hamburg aus. Das Ehepaar kehrte 1997 zurück. Nach einer Gastprofessur an der Burg Giebichenstein in Halle und einer Dozentur im Grundlagenstudium Malerei an der Hochschule für bildende Künste Dresden war sie von 2006 bis 2022 Professorin für Malerei und Grafik an der HGB.