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Medizin aus Dresden für Dresden

Vor 20 Jahren begann die Ausbildung junger Ärzte in der Johannstadt. Davon profitieren alle Patienten in der Region.

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Annechristin Kleppisch

Das Wartezimmer ist voll. Alle Stühle sind besetzt. Kleinkinder quengeln. Erwachsene blättern gelangweilt in Zeitschriften. In der Notaufnahme herrscht Hektik. Oberarzt Henry Leonhardt stört das nicht. Ruhig geht er durch die Gänge. Seine Schicht hat gerade erst angefangen. „Für einen Freitagabend ist dieser Auflauf normal“, sagt er. Noch bis in die frühen Morgenstunden dauert seine Schicht. Einen freien Freitagabend hat er nicht. Kein gemütliches Bierchen mit Freunden oder der neueste Blockbuster im Kino. „Das gehört zu meinem Job dazu“, sagt er.

Das ist nicht nur der Beruf, den er schon als Kind gern machen wollte. Sondern auch eine Arbeit, die ihn jeden Tag zurück in die Zeit des Studiums bringt. Denn Henry Leonhardt ist einer der Ersten, die in Dresden begonnen haben, im ersten Semester Medizin zu studieren. Während vor der Wende und bis 1993 nur angehende Mediziner im dritten Studienjahr nach Dresden kamen, begann vor 20 Jahren an der Medizinischen Fakultät die grundständige Ausbildung von Ärzten. Vorher hatten dafür schlicht die Voraussetzungen gefehlt. „Zum Beispiel hatten wir keinen Unterricht in Anatomie“, sagt Konrad Kästner, Sprecher der Fakultät.

Die kam erst mit Richard Funk. Seit November 1994 führt er den Lehrstuhl für Anatomie. Vorher war er Professor in Erlangen. Das Neue in Dresden reizte ihn. „Das waren enorm stürmische Zeiten“, sagt er. Mit einer überschaubaren Anzahl an Studenten. Während heute knapp 2.600 in den Fächern Medizin, Zahnmedizin, Public Health und Medical Radiation Sciences, der Strahlenheilkunde, eingeschrieben sind, gab es Anfang der 90er-Jahre gerade einmal 125 Studienanfänger. Und insgesamt nur ein Drittel so viele Studenten wie heute. „Die Arbeit mit den Studenten war damals natürlich viel individueller“, sagt Richard Funk. Das bestätigt auch Henry Leonhardt: „Untereinander haben wir uns besser gekannt, als es die Studenten heute tun.“

Tausende wollen nach Dresden

Doch mittlerweile ist das Medizinstudium in Dresden gefragt. Pro Jahr fangen knapp 300 Studenten in Dresden an. Wer einen Platz ergattern will, muss gut sein, sehr gut, einer der Besten. Allein wer einen der 39 Plätze haben will, die über die Abiturnote vergeben werden, muss sich mit über 700 Bewerbern messen. „Eine schlichte 1,0 reicht da nicht“, sagt Konrad Kästner. Weitere 1.600 Bewerber gab es in diesem Jahr für die Auswahlgespräche. Nur 300 wurden tatsächlich eingeladen. Und wer über Wartesemester den Platz bekommen will, muss sechs Jahre lang ausharren. Dafür gab es in diesem Jahr über 900 Bewerber. „Medizin ist nach wie vor in ganz Deutschland ein extrem nachgefragtes Studium“, sagt Kästner. Dresden sei dabei aber sicher kein unbeliebter Ort bei den Studenten.

Und bei den Patienten. Einwohner nicht nur aus der Stadt, sondern aus der ganzen Region profitieren im Uniklinikum Dresden von der angeschlossenen Medizinerausbildung. In knapp 30 verschiedenen Kliniken wird gelehrt und behandelt. Schon früh sollen die Studenten mit den Patienten in Kontakt kommen. Das praktische Jahr am Ende des Studiums absolvieren viele auf dem Campus der Fakultät in der Johannstadt. Erst Krankenversorgung mache den Dreiklang mit Forschung und Lehre perfekt, sagt Sprecher Kästner.

Die Krebsmedizin ist nur ein Beispiel für das erfolgreiche Miteinander von Forschung und Krankenversorgung. Die Dresdner Hochschulmedizin versorgt Patienten nicht nur in einem onkologischen Spitzenzentrum, sondern gehört auch in der Erforschung von Krebs des blutbildenden Systems oder der Strahlentherapie zu den international führenden Institutionen. So sollen ab nächstem Jahr Krebspatienten im neuen Protonenstrahlzentrum behandelt werden. „Ohne unsere Forschung würde es das gar nicht in Dresden geben“, sagt Kästner. Es ist nur ein Beispiel für den Erfolg der Dresdner, wenn es um Drittmittel geht. Allein im vergangenen Jahr kamen 77 Millionen Euro aus der Industrie oder vom Bund für zusätzliche Forschungsprojekte an die Fakultät. 700 Arbeitsplätze können davon finanziert werden. Fachkräfte, die auch in Lehre und Krankenversorgung eingesetzt sind.

„Dazu müssen unsere Lehrenden immer auf dem neuesten Stand sein, um das Wissen den Studenten zu vermitteln“, sagt Konrad Kästner. Das komme auch den Patienten zugute. Zum Beispiel in der Diabetesbehandlung, die in Sachsen besonders gefragt ist. Denn in keinem anderen Bundesland leben mehr Diabetiker.

Modern ging es schon ganz am Anfang zu. Gern erinnert sich Richard Funk daran zurück. „Das Geld war da und die Ausstattung besser als im Westen“, sagt er. Alles wurde neu eingerichtet: Mikroskope, Sezierbesteck, Tische und Schränke in der Anatomie. „Der Phantomsaal war nagelneu“, sagt Henry Leonhardt. Dort üben die Studenten Handgriffe an Versuchspuppen, bevor sie am lebenden Patienten Diagnosen stellen dürfen.

Viele Jungärzte bleiben in Sachsen

Über 4.000 Mediziner und Zahnärzte haben in den vergangenen 20 Jahren in Dresden ihren Abschluss gemacht. Über 60 Prozent der Studenten stammen aus Sachsen. Knapp die Hälfte hat nach dem Abschluss vor, in Sachsen zu arbeiten. 15 Prozent der Studenten wollen nach dem Studium als Allgemeinärzte arbeiten. Das hilft beim anhaltenden Ärztemangel, den es vor allem in den ländlichen Regionen gibt. „Junge Ärzte, die vor Ort lernen, bleiben auch gern hier“, sagt Sprecher Konrad Kästner.

Auch Henry Leonhardt ist nach Dresden zurückgekommen. Für seine Facharztausbildung ging er zwar vor zehn Jahren nach Magdeburg. Heute arbeitet er aber wieder in Dresden als Oberarzt in der Kieferchirurgie. Der Dresdner fühlt sich wohl am Uniklinikum. Die Arbeit mit den Studenten macht Spaß. Auch wenn der 40-Jährige heute nicht noch einmal in den Hörsaal zurück will. „Das Studium damals war entspannter. Nicht leger, aber mit mehr Zeit“, sagt er. So wie er damals in den Semesterferien in der Chirurgie als Helfer zu arbeiten, können sich Studenten heute nicht mehr leisten. „Der Druck ist größer“, sagt er. Aber der gehört sowieso zum Medizineralltag. Das ist heute wie damals so. Das hat auch Henry Leonhardt gelernt. Und so bleibt er ruhig, auch wenn das Wartezimmer voll und die Nachtschicht lang ist.