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Mehr als ein Stiefelfüller

Er ist der Lieblingsheilige der Deutschen. Was uns Sankt Nikolaus heute noch lehren kann. 

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© Karikatur: Mario Lars

Von Roland Löffler

Heute ist ein Tag erwartungsvoller Überraschungen. Kinder freuen sich über Süßigkeiten, die Händler, weil sie dergleichen verkaufen, und Eltern, weil endlich mal wieder die Stiefel geputzt sind. Zu Ehren des Nikolaus, versteht sich. Wer aber war diese legendarische Figur – und warum lohnt es, sich ihrer zu erinnern? Weil sie geradezu exemplarisch für die Komplexität europäischer Kultur steht.

Eigentlich wissen wir über den historischen Nikolaus relativ wenig, und das Wenige, beruht auf Legenden. Er wurde um 280 in der antiken Provinz Lykien geboren, direkt an der Mittelmeerküste. Vermutlich war er ein Kind reicher Eltern, verteilte aber sein Erbe unten den Armen und wurde Priester. Er wuchs während der Herrschaft Diokletians auf, in einer Zeit gesellschaftlicher Krisen und außenpolitischer Kriege. Ein expandierender, neuer Glaube wie das Christentum stand dem kaiserlichen, von den Göttern abgeleiteten Machtanspruch entgegen, weshalb Diokletian brutale Christenverfolgungen anordnete. Nikolaus soll in dieser Zeit gefangen genommen und gefoltert worden sein. Wenige Jahre später wird er Bischof von Myra. Er starb zwischen 345 und 351.

Luther lehnte Nikolaus-Verehrung ab

Die Geschichte seiner Reliquien zeigt die Komplexität der europäischen wie der christlich-islamischen Geschichte: Nachdem Myra 1087 von den Seldschuken, einer sunnitisch-türkischen Fürstendynastie, eingenommen wurde, raubten oder evakuierten süditalienische Kaufleute die Gebeine des Heiligen und brachten sie nach Bari, wo sie zu seinem Andenken eine Basilika errichten. Dort wird jährlich im Mai ein Nikolaus-Fest gefeiert, weshalb die Stadt heute der Hauptwallfahrtsort der westlichen Nikolaus-Tradition ist. Die Gebeine des Heiligen sind übrigens Gegenstand eines typischen post-kolonialistischen Streits: Die türkische Nikolaus-Stiftung fordert nämlich ihre Rückführung nach Myra.

Die meisten Legenden ranken sich um seine besondere Hingabe für Arme und Bedürftige, weshalb er als Patron der Nächstenliebe gilt. Zwei Beispiele: In der Region herrschte eine Hungersnot. Im Hafen lagerten Getreideschiffe, bestimmt für den Kaiser. Der Bischof bat den Kapitän, der Bevölkerung das Korn zu geben, doch dieser hatte Angst vor Strafe. Der Bischof sicherte ihm Straffreiheit zu. Daraufhin gab dieser einen Teil der Ladung ab. Als die Schiffe am Zielhafen ankamen, fehlte nicht ein Gramm Ladung – ein göttliches Wunder.

In der zweiten Geschichte schenkte Nikolaus einem Mann mit drei Töchtern drei goldene Äpfel, die seither zu den Insignien des Heiligen gehören. Denn der Vater war so arm, dass er keine Mitgift für seine heiratsfähigen Töchter hatte. Deshalb sah er sich dazu gezwungen, sie auf dem Markt zu verkaufen. Sie wären zu Sklavinnen oder gar Prostituierten geworden, hätte nicht Nikolaus bei Nacht drei Äpfel beziehungsweise Goldklumpen durchs Fenster des Mannes geworfen, sodass der seine Töchter respektabel verheiraten konnte. Nikolaus nimmt sich also zweier großer Weltprobleme an: Hunger und Menschenhandel aufgrund kulturell-religiöser Konventionen, wie er bis heute in vielen Teilen der Welt praktiziert wird.

Reflektieren wir das Verhalten des Nikolaus unter den Vorzeichen heutiger politischer Bildung kritisch, so lässt sich festhalten: Nikolaus als spätantiker Mensch löste die Probleme nicht systematisch-politisch, sondern vielmehr individuell. Immerhin, er tat es, denn der Wohlfahrtsstaat war noch Jahrhunderte entfernt.

Wie jede historische Figur durchlebt auch der Nikolaus eine zeithistorische Interpretation. Der Philosoph Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass der Mensch als „Mängelwesen“ geistiger oder künstlerischer Hilfsmittel bedürfe, um sich angesichts des „Absolutismus der Wirklichkeit“ behaupten zu können. So unterstützen Mythen oder auch legendarische Figuren die Orientierung in der komplexen Lebenswelt. Das lässt sich am Nikolaus gut ablesen, der ab dem 6. Jahrhundert im orthodoxen Osten und drei Jahrhunderte später auch im Westen als Freund der Kinder und des Schenkens verehrt wird. In der katholischen Kirche wird er seit dem 16. Jahrhundert zum pädagogischen Beauftragten der Bischöfe, der mit einem gezähmten Teufel die Eltern besucht und nachfragt, ob die Kinder das Jahr über brav waren.

Die Reformation dagegen bringt für Protestanten das Ende der Heiligenverehrung. So lehnte Luther auch die Verehrung des Nikolaus ab, hielt aber am Tag der Beschenkung der Kinder fest. Er setzte eine terminliche Verschiebung durch – hin auf den 25. Dezember, also einen Tag nach dem Heiligen Abend. Für den Wittenberger Reformator stand als Gabenbringer im weltlichen wie theologischen Sinne nicht ein Heiliger, sondern das Kind Jesus Christus oder kurz: das Christkind im Mittelpunkt des Geschehens.

Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich in Deutschland die bürgerliche Gesellschaft und die mit ihr verbundene Kleinfamilie herauszubilden. Die Nation erlebte eine Phase der biedermeierlichen Neuerfindung alter Traditionen. Der Nikolaus wurde zum Weihnachtsmann, aus Weihnachten das sentimentale Familienfest mit Musik, Braten und großer Bescherung. Dieser Austausch des Nikolaus gegen den Weihnachtsmann wurde im 20. Jahrhundert durch eine Weltfirma zementiert: Coca Cola setzte in ihrer Weihnachtswerbung seit den Zwanzigern Santa Claus – so der englische Name – als „Testimonal“ ein.

Ursprungsort in der Türkei

Der Grafiker Haddon Sundblom prägte das Image eines gemütlichen, älteren Herren mit rotem Mantel und mächtigem Bart, der Cola trank, sich mit Kindern traf, Geschenke und Getränke verteilte und von einem Reh-Schlitten begleitet wurde. Diese Bildwelt geht auf das romantische Gedicht „A Visit from St. Nicholas“ von 1829 zurück, das im angelsächsischen Raum sehr wirkmächtig war. So wurde der mediterrane Theologe zum winterlichen Geschenke-Onkel der nördlichen Hemisphäre. Sundbloms Bilder fanden ihren Weg in berühmte Museen in Paris, Toronto, Tokio, sie finden sich heute noch in der „World of Coca Cola“ in Atlanta.

Blicken wir geografisch und politisch zurück auf den Ursprungsort des Heiligen: Das antike Myra ist heute die türkische Stadt Demre. Sie liegt in der Provinz Antalya. Zum Namenstag des Heiligen feiert die orthodoxe Kirche einen Festgottesdienst, der sich früher reger Beliebtheit erfreute. In den letzten Jahren ist der Ansturm der Pilger zurückgegangen, Christen gibt es schon seit dem Ende des Ersten Weltkriegs kaum mehr in der Region. Nur noch einige mutige Russen entspannen in der Region. Grund dafür sind die Terroranschläge in Istanbul und Ankara sowie die Nähe zu Syrien. Dass es hier fast keine Flüchtlinge gibt, war eine Entscheidung des Gouverneurs. Er wollte Turbulenzen zwischen Urlaubern und Asylsuchenden vermeiden – deshalb wies er sie aus.

Der Nikolaus ist also nur auf den ersten Blick der liebliche Schokomann aus dem Supermarkt. Auf den zweiten Blick führt er uns mitten ins Leben – und zu vielen ungelösten Probleme unserer Zeit.


Unser Autor ist Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Der Text ist ein Auszug aus seiner Rede zur Verleihung des Sächsischen Preises für Kulturelle Bildung.