SZ + Meißen
Merken

"Jedes Telefonat könnte das letzte sein"

Eine Ukrainerin hält engen Kontakt in die Heimat und organisiert Unterkünfte für Flüchtlinge in Meißen. Den Krieg hat sie kommen sehen.

 5 Min.
Teilen
Folgen
Telefoniert mehrmals täglich mit der Heimat: Die Ukrainerin Nataliya Vogel-Litvinenko, hier auf der Friedensdemo am Dienstagabend in Meißen.
Telefoniert mehrmals täglich mit der Heimat: Die Ukrainerin Nataliya Vogel-Litvinenko, hier auf der Friedensdemo am Dienstagabend in Meißen. © Claudia Hübschmann

Meißen. Nataliya Vogel-Litvinenko stammt aus der Ukraine und lebt seit 2004 in Meißen. Während die 45-Jährige als Erzieherin im Hort der Afra-Grundschule arbeitet, werden ihre Angehörigen und Freunde zu Hause bombardiert. Diese Tage seien die schlimmsten in ihrem Leben, sagt die Mutter von drei Kindern. Jedes Telefonat mit der Familie wird so beendet, als wenn es das letzte wäre. Manchmal kommt es gar nicht so weit.

Frau Vogel-Litvinenko, seit einer Woche ist Krieg in der Ukraine. Haben Sie das kommen sehen?

Ehrlich gesagt, ja. Ich habe in der Ukraine als Kunst- und Geschichtslehrerin gearbeitet und weiß, wie Kriege entstehen. Medial bereitet Putin sein Volk seit Jahrzehnten darauf vor. Die russische Führung ist absoluter Profi in dieser Sache. Man versucht zu spalten und Hass zu schüren – gegen Ukrainer, aber auch Westeuropäer. Mit der Annexion der Krim hatte Putin schon 2014 gezeigt, wozu er fähig ist. Was ihn inzwischen so gefährlich macht, ist sein fehlender Bezug zur Realität.

Also haben Sie ihre Angehörigen in der Ukraine gewarnt?

Ich war zuletzt im Dezember 2021 zu Hause in Tschernihiw – einer Großstadt im Nordosten –, um meinen Vater zu beerdigen. Er ist an Corona gestorben. Meine Mutter ist 70 und meine Oma 92 Jahre alt. Beide waren zu dem Zeitpunkt positiv und konnten damit nicht bei der Beerdigung dabei sein. Bei meinem Besuch haben wir darüber gesprochen, dass etwas passieren könnte. In den Wochen danach war es immer wieder Thema am Telefon. Sowohl in der Familie als auch bei Freunden wurden die Truppenbewegungen an der Grenze abgetan. Es werde nicht so schlimm kommen. Man werde sich auf diplomatischem Wege schon einig, hieß es immer. Dann gab es ja diesen prophezeiten Kriegsbeginn. Ich glaube, das war der 16. Februar. Als ein Angriff ausblieb, sahen sich natürlich alle bestätigt. Im Nachhinein bereue ich es, dass sie dort sind und nicht hier. Ich hätte noch mehr Druck machen müssen.

Wie haben sie vom Einmarsch der russischen Truppen erfahren?

Ich bin am 24. Februar gegen 3.44 Uhr aufgewacht. Ich hatte eine innere Unruhe und sofort versucht, meine Mutter und Freunde zu erreichen. Doch keiner ging ran. Irgendwann schrieb mir eine Freundin "Nataliya, es ist Krieg!". Erst gegen 14 Uhr hatte ich Kontakt zu meiner Mutter. Wenn ich anrufe und niemand rangeht – das ist nach wie vor das Schlimmste für mich.

Wie geht es ihren Angehörigen?

Wir telefonieren mehrmals täglich. Oftmals wird das Gespräch durch Luftangriffe unterbrochen. Manchmal ist auch die Verbindung einfach so weg. Meine Mutter und meine Oma wohnen in einem Hochhaus. Einen Keller gibt es nicht. Sie setzten sich bei Alarm in den Korridor zwischen tragende Wände. Lebensmittel besorgen die Nachbarn.

Das Enkelkind von meiner Freundin ist am 9. Januar auf die Welt gekommen. Wir haben uns riesig gefreut und ein großes Paket für die kleine Veronika gepackt. Es kam am 20. Februar an. Sie hatten uns noch Bilder vom Auspacken zurückgeschickt. Auf dem nächsten Bild, das ich bekommen habe, versteckten sie sich mit dem Baby in einem dunklen Keller. Da blutet mir das Herz.

Was wissen Sie über die Geschehnisse vor Ort?

Die Russen haben in den letzten Tagen Tschernihiw umzingelt und sind nun auch in die Stadt vorgedrungen. Kindergärten, Wohnhäuser, Polikliniken und historischen Gebäude wurden beschossen. Es soll Straßenkämpfe geben. Ich habe gehört, dass Einwohner damit begonnen haben, in der Brauerei Molotowcocktails herzustellen. Stündlich gibt es Luftangriffe.

Woher haben Sie ihre Informationen?

Ich stehe im ständigen Kontakt mit Freunden. Das sind Leute, mit denen ich zur Schule gegangen bin, studiert habe oder eben seit Jahren befreundet bin. Ich vertraue ihnen zu 100 Prozent. Darüber hinaus gibt es eine Plattform, die Videos und Fotos vor der Veröffentlichung checkt. Den Namen möchte ich nicht nennen. Natürlich muss man aufpassen. Es werden viele Fake-News verbreitet, um die Gegenseite zu demoralisieren. Da wird dann behauptet, diese oder jene Stadt sei gefallen und ähnliche Geschichten.

Sie sind Erzieherin in einem Hort. Wie kommen Sie mit alledem klar?

Ich bin eine starke und strukturierte Frau. Ich kann das auseinander halten. Natürlich haben wir uns auch auf Arbeit darüber auseinandergesetzt, inwieweit der Krieg hier Thema sein sollte. Mit der Schule haben wir uns darauf verständigt, es den Jungs und Mädchen kindgerecht zu erklären. Das Thema Kriegsflüchtlinge gehört auch dazu.

Haben die Russen und Ukrainer ein Problem miteinander?

Nein, ich bin mit vielen Russen befreundet. Einige haben mich angerufen als der Krieg losging. Sie hatten Angst, dass ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Das ist natürlich Quatsch. Ich höre oft, dass Ukrainer verwundeten russischen Soldaten geholfen oder ihnen die Möglichkeit gegeben haben, nach Hause zu telefonieren. Es gibt natürlich auch Russen, bei denen die Propaganda gefruchtet hat.

Wie geht es jetzt weiter?

Es kommen jeden Tag Ukrainer an, auch hier in Meißen. Für sie müssen Schlafplätze bzw. Unterkünfte organisiert werden. Die Vernetzung läuft auf Hochtouren. Es ist aber alles noch etwas unstrukturiert. Auf der anderen Seite wird die Liste mit benötigten Hilfsgütern immer länger. Die nächsten Tage gilt es, alles auf professionelle Füße zu stellen, sodass die Hilfe Sinn macht und auch wirklich ankommt. Wichtig ist außerdem, dass Menschen, die helfen wollen, eine Anlaufstelle haben.

Möchten Sie noch etwas loswerden?

Ich bin sehr stolz darauf, wie die Ukrainer zusammenhalten – im eigenen Land aber auch weltweit.

Das Gespräch führte Andre Schramm.