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Mit 80 noch an der Felswand

Er ist ein Urgestein der Pirnaer Kletterszene und noch immer einer der Wilden: Gisbert Ludewig.

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Von Hartmut Landgraf

Dieser Klettertag soll nicht sein. Über Nacht hat es wie aus Kübeln gegossen, und jetzt geht das Mistwetter draußen schon wieder los. Eigentlich lässt sich Gisbert Ludewig trotzdem nicht von seinen Felsen fernhalten. Er weiß, wo man die Regenwege der Sächsischen Schweiz findet. Die mit den Überhängen und Dächern, die selbst nach Wolkenbrüchen noch machbar sind. Überhaupt gibt es im Elbsandstein wenig, was der weißhaarige Pirnaer nicht kennt.

Seit 1946 – damals 16-jährig – ist er in den sächsischen Bergen unterwegs. „Ich hatte ein gutes Hanfseil aus Italien“, erinnert er sich. „Die Seile waren damals Selbstmord, aber meins hielt.“ Schon 1971 hatte Ludewig als damals dritter seiner Zunft alle Gipfel der Sächsischen Schweiz bestiegen. Hunderte Kletterwege hat er selbst im Vorstieg erschlossen – von leichten Touren bis zu großen Geschützen im achten Schwierigkeitsgrad. Am 18. Juli ist Gisbert Ludewig 80 Jahre alt geworden. Aber sattgeklettert hat er sich noch lange nicht. Deshalb tigert er unruhig in seinem Wohnzimmer hin und her. Für heute ist Klettern abgesagt. Was soll er jetzt groß darüber erzählen? Bergsteigen muss man erleben. Gleich morgen wieder mit anderen Alten der Szene, mit den „Grauen Hirschen“. Jeden Mittwoch treffen sie sich. Und am Wochenende mit den „Wilden Jungs“, einer Gruppe von Kletterern, die halb so alt sind wie er.

Das funktioniere einwandfrei, wird aus Clubkreisen versichert. Ludewig ist zwar ein Urgestein der Pirnaer Kletterszene – aber lebhaft allem Neuen zugewandt. Das fängt schon beim Material an. Dass er als alter Mann noch in die Berge gehen könne, verdanke er letztlich seinem Sitzgurt, sagt er. „Das war die größte Erfindung im Klettern.“

Anstoß für Pirnaer Kletterhalle

Auch in seinen Ansichten zum Sport ist der Pirnaer nicht im Althergebrachten verfangen. Warum, fragt er, soll man gefährliche klassische Routen im Elbsandsteingebirge heutzutage nicht besser absichern, wenn sie sonst kaum noch jemand klettern mag. „Ist doch schade um die schönen Wege.“ Um solche Fragen aber wird in der Szene heftig gestritten.

In Pirnaer Kletterkreisen gilt der 80-Jährige als ein aufgeschlossener Geist mit einem „wunderbar kameradschaftlichen Verhältnis zur Jugend“, wie es ein langjähriger Seilgefährte formuliert. Ein anderer sagt es schlichter: „Der Gisbert kann einfach alle und jeden gut leiden.“ Der Bergsport in Pirna jedenfalls wäre ohne ihn wohl nicht das, was er heute ist. 1989 gehörte er zu den sieben Kletterfreunden, die den Sächsischen Bergsteigerbund (SBB) wieder ins Leben riefen. In den Jahren nach der Wende werkelte er beharrlich am Aufbau einer Vereinsstruktur in Pirna, führte die hiesigen Clubs wieder in einer SBB-Ortsgruppe zusammen – wie es sie schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab. Gegenwind gab es genug, Ludewig erinnert sich vor allem an die zähen Mühlen der Bürokratie, an die „Rechtsverdreher“ und das ganze „Affentheater“, bis das Vereinsstatut den gesetzlichen Vorgaben entsprach. Im Frühjahr 2010 hat die Ortsgruppe ihr 90. Gründungsjubiläum gefeiert – in Anlehnung an alte Vorkriegstraditionen.

Aber um die Tradition, sagt Gisbert Ludewig, sei es bei der Wiedergründung nach der Wende gar nicht so sehr gegangen. Stattdessen ging es um eine Kletterhalle – um etwas für den Nachwuchs, fürs Training und für Regentage. Und ums nötige Kleingeld. „Geld hatten wir keins, und Fördermittel konnte nur ein Verein beantragen“, erinnert er sich. Er machte sich in die Spur, fand rührige Partner in der Stadtverwaltung, trieb Räume auf und bekam endlich auch die erhofften Finanzen. Die erste Wand in einer Turnhalle auf der Rottwerndorfer Straße wurde bald wieder dicht gemacht. Aber schließlich konnte die Ortsgruppe 1999 das Kletterzentrum auf dem Sonnenstein eröffnen. Ludewig gab sein Vorstandsamt erst ab, nachdem die Sache durchgestanden war – 2001. „Eine aktive Zeit“, sagt er heute.

Über 850 Erstbegehungen

Egal wie es kommt, auf den Mann sei Verlass, hört man überall in seinem Freundeskreis. Als Ludewig noch als Elektroingenieur im Strömungsmaschinenwerk Pirna Überstunden sammelte, um jederzeit klettern gehen zu können, kam das auch Extremkletterer Bernd Arnold zugute. Ludewig gehörte in den 70er- und 80er-Jahren zum engsten Kreis des Hohnsteiners, als der mit seinen Erstbegehungen den sächsischen Bergsport über alle bisherigen Schwierigkeitsgrade hinaus zu neuen Ufern führte. Routen wie die extrem schwere 1000-Mark-Wand (1979/IXc) an der Südlichen Pfaffenschluchtspitze stand Ludewig am Seil mit Arnold durch. Noch heute spricht er mit Bewunderung von den sportlichen Leistungen seines Vorsteigers.

Dabei hat er ebenfalls ein üppiges Register eigener Pioniertaten vorzuweisen. Laut aktuellem Kletterführer gehen in der Sächsischen Schweiz über 850 Erstbegehungen auf Ludewigs Konto, bei knapp 20000 anerkannten Routen sind das über vier Prozent aller Kletterwege. Dazu gehören auch solche wie am Großen Bärenhorn (Reibungsattacke, VIIc), die er im Grunde gar nicht mag, glatte „Reibungswände“, wo es so gut wie nichts zum Festhalten gibt. Bei seiner geringen Körperlänge, scherzt der 80-Jährige, sei da der nächste Griff immer ein Stück zu weit weg.