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Mit Schmerz gegen den Schmerz

Mit links macht Sylvia Kühne nichts mehr. Das liegt nicht nur daran, dass sie Rechtshänderin ist. Es liegt vielmehr an dem höllischen Schmerz, der ihr bei jeder unbedachten Berührung bis in den Kopf schießt.

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Von Juliane Richter

Mit links macht Sylvia Kühne nichts mehr. Das liegt nicht nur daran, dass sie Rechtshänderin ist. Es liegt vielmehr an dem höllischen Schmerz, der ihr bei jeder unbedachten Berührung bis in den Kopf schießt. Ein nierenförmiger Bereich rund um das linke Handgelenk macht der 48-Jährigen Sorgen. Dabei sehen Hand und Unterarm fast normal aus. Lediglich eine schmale Narbe zieht sich darüber. „Das ist eben das Problem an der Sache. Weil man nichts sieht, kann niemand meine Qualen nachvollziehen“, sagt Sylvia Kühne.

Die Qualen bedeuten manchmal Stufe zehn auf der Schmerzskala. Schlimmer geht es nicht. Mittlerweile bekämpft sie den einen Schmerz mit einem anderen: Alle drei Monate klebt ihr Oberärztin Susann Kotte in der Schmerzambulanz des Krankenhauses Friedrichstadt ein Chili-Pflaster der Firma Qutenza auf. Das enthält den Wirkstoff hoch konzentriert. Und es brennt wie Feuer. Maximal 40 Minuten hält Sylvia Kühne diesen Schmerz aus. „Aber wenn ich das schaffe, geht es mir danach fast drei Monate gut“, sagt sie. Der Wirkstoff deaktiviert in dieser Zeit gewisse Schmerzrezeptoren – verliert aber nach und nach seine Wirksamkeit.

Endlich weniger Tabletten

„Für mich ist das trotzdem eine unglaubliche Hilfe. Immerhin kann ich sogar wieder arbeiten gehen“, sagt Sylvia Kühne. Fast anderthalb Jahre war das wegen der Schmerzen im Handgelenk nicht möglich.

Ihr Leidensweg beginnt bereits im Jahr 2000, als sie sich bei einem Arbeitsunfall im Lager eines großen Einzelhändlers den linken Unterarm bricht. Auf den ersten Blick keine dramatische Verletzung. Die Ärzte gipsen den Arm ein, und alles scheint zu verheilen. Doch von Woche zu Woche treten immer häufiger Schmerzen im Handgelenk auf. Anfangs gehen die Ärzte von einer Sehnenscheidenentzündung aus. Doch 2003 zeigt eine Spiegelung des Gelenks, dass der Bruch auch die Bänderstruktur geschädigt hat. Die Schmerzen werden so schlimm, dass Sylvia Kühne ihren Job aufgeben muss. Denn schweres Tragen im Lager ist für die Zukunft ausgeschlossen.

Im Jahr 2007 legt ihr ein Chirurg nahe, in einer Operation mehrere, oberflächige Nerven rund um das Handgelenk zu durchtrennen. Dadurch soll der Schmerz verschwinden. Oberärztin Kotte hätte das gern verhindert: „Damit wurde zwar der eine Schmerz beseitigt. Aber nun ist es ein neuer, elektrisierender Nervenschmerz.“ Denn die Nerven sind wieder gewachsen.

Die Ärztin hat in der Schmerzambulanz bisher etwa zehn Patienten mit dem Pflaster behandelt, davon viele mit Gürtelrose. „Der Schmerz verschwindet dadurch nicht dauerhaft. Aber er ermöglicht den Patienten, auf viele Tabletten zu verzichten“, sagt Kotte. So hat Sylvia Kühne über lange Zeit mindestens sieben Tabletten am Tag nehmen müssen, um das Hacken im Handgelenk zu ertragen. „Aber durch die Tabletten war ich nicht mehr ich selbst. Ich stand irgendwie neben mir und habe auch sehr stark zugenommen“, sagt die 48-Jährige.

Mittlerweile muss sie nur noch an schlimmen Tagen eine Schmerztablette nehmen. Zudem arbeitet sie nach einer Umschulung nun im Büro und hat ihren Lebensmut wiedergefunden. Sylvia Kühne ist über die Jahre gelassener geworden. „Früher dachte ich, ich muss alle sechs Wochen die Fenster putzen. Jetzt reicht es mir, wenn ich das nur noch alle Vierteljahre mache.“ Laut Oberärztin Kotte vertragen allerdings nicht alle Patienten das Pflaster so gut. Manche halten den Berührungsschmerz beim Auftragen nicht aus oder überstehen die minimale Einwirkzeit von 30 Minuten nicht. Bei anderen ist die Wirkung nicht so gut. Ähnliche Erfahrungen hat auch Dr. Rainer Sabatowski vom Dresdner Uniklinikum gemacht. Er leitet das dortige Schmerzzentrum. Ebenso wie im Friedrichstädter Krankenhaus verabreicht er es vor allem Patienten mit starken Nervenschmerzen, die überempfindlich auf Berührungen oder Wärme reagieren. Kritisch sieht er auch den zeitlichen Aufwand der Behandlung, da er die Patienten an den betroffenen Stellen zunächst lokal betäubt.

Sylvia Kühne verzichtet auf diese Betäubung, freut sich allerdings nach der Behandlung auf die Kühlkissen. Und auf die kommenden Wochen, die sie wieder bei Weitem entspannter ertragen kann. „Ich habe mein Verhalten geändert. Bestimmte Dinge kann ich einfach nicht mehr machen. Ein Restschmerz wird immer bleiben – aber das nehme ich hin.“