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„Mobbing kann jeden treffen“

Anke Landgraf hilft Kindern und Jugendlichen, sich gegen Mobbing zu wehren. Erwachsene schämen sich eher, sagt sie.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Sächsische Schweiz/ Osterzgebirge. Die Zahlen, die Mitarbeiter des Pirnaer Jugendtreffs Hanno vor ein paar Monaten der SZ gaben, waren alarmierend. Demnach wären drei bis fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Landkreis von Mobbing betroffen. Neuere Umfragen in Deutschland bestätigten diesen Eindruck.

Solche Zahlen sieht Anke Landgraf kritisch. Die 47-jährige Freitalerin arbeitet beim Kinder- und Jugendhilfeverbund. Sie ist eine von wenigen Experten im Landkreis, die sich auf das Thema Mobbing spezialisiert haben. Studiert hat sie an der TU Dresden: Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie. Sie berät Kinder und Jugendliche, Eltern und Lehrer, vermittelt aber auch im Auftrag des Kreisjugendamtes zwischen Tätern und Opfern.

Frau Landgraf, wie viel wird in unserer Region gemobbt?

Es gibt dazu keine verlässlichen Zahlen. In der Forschung ist auch nicht belegt, dass es immer mehr Mobbing gäbe, wie manchmal behauptet wird. Aus meiner Arbeit weiß ich aber, dass es an allen Schulen vorkommt, egal ob Grundschule, Oberschule, Gymnasium oder Förderschule. Ausgrenzung beginnt oft schon in der Kita. Und genau dort müsste Prävention ansetzen. Hier müsste man den Kindern beibringen, stark und selbstbewusst zu handeln.

Was ist Mobbing überhaupt? Woran kann man es erkennen?

Ein Kennzeichen ist ein Ungleichgewicht der Kräfte. Das Opfer muss alleine, quasi isoliert sein. Mobbing tritt regelmäßig auf, etwa einmal pro Woche. Wer mal geärgert wurde, ist nicht gleich Mobbing-Opfer. Gemobbt wird über einen längeren Zeitraum, also über Wochen und Monate. Und man kommt aus eigener Kraft nicht aus dem Konflikt heraus. Erst wenn diese vier Merkmale gleichzeitig auftreten, ist es Mobbing.

Wie merke ich, dass ich mir nicht aus eigener Kraft helfen kann?

Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, habe viel Selbstzweifel. Man weiß nicht mehr: An wen kann ich mich noch wenden, wem kann ich noch vertrauen? Man fühlt sich ganz allein. Aber die Abgrenzung ist schwer. Wenn sich Kinder und Jugendliche schlecht fühlen, muss das längst noch kein Mobbing sein. Es ist auch möglich, dass das nur noch im Kopf stattfindet, weil einmal jemand gesagt hat: Du packst es nicht. Dann erzählt das Kind zu Hause möglicherweise, es werde gemobbt. Dabei stimmt das gar nicht. Andersherum gibt es auch Täter, die sich gar nicht bewusst sind, dass sie mobben. Die merken gar nicht, was sie mit ihren Taten anstellen.

Kann man sich vor Mobbing schützen?

Nein. Jeder kann Mobbing-Opfer werden. Einen präventiven Schutz gibt es nicht. Je nachdem, in welcher Situation mich eine Attacke trifft, kann es mich ganz schön umhauen.

Gibt es Unterschiede beim Mobbing zwischen Kindern und Erwachsenen?

Die Definition ist gleich. Erwachsene machen das subtiler. Nach dem Motto: Der ist nicht so, wie ich ihn brauche. In der Grundschule heißt es dagegen eher: Ich will nicht mit dir spielen, oder: Ich bin der Stärkere. Bei Jugendlichen und Erwachsenen kommen Lästern und Verleumden ins Spiel. Wenn man immer schlecht über jemanden redet, zermürbt das den irgendwann.

Reagieren Erwachsene anders auf Mobbing als Kinder?

Nein. Die Scham bei Erwachsenen ist aber stärker ausgeprägt. Sie scheuen sich oft, Hilfe zu suchen. Kann ich meiner Frau erzählen, dass ich auf Arbeit schikaniert werde? Kann ich mit meinem Chef darüber reden? Dann verstärken sich die Effekte und Erwachsene sind eher noch schneller isoliert als Kinder und Jugendliche.

Wie gehen Mobbingopfer mit Ausgrenzung um?

Menschen reagieren darauf sehr unterschiedlich, das hängt von der Persönlichkeit ab. Je nach dem konkreten Lebensumstand und der konkreten Situation ziehen sich Menschen in sich zurück. Oder ihr Selbstwertgefühl geht kaputt, sie trauen sich dann nichts mehr zu.

Seit ein paar Jahren ist viel von Cybermobbing die Rede. Was ist das?

Das ist Mobbing im Internet. Weil es jetzt technisch möglich ist, können sich bösartige Sätze, Gerüchte, Gemeinheiten viel schneller und weiter verbreiten als zuvor. Das geht dann weit hinaus über die Schule, die Familie, den Freundeskreis. Ich erlebe oft, dass unangenehme Bilder weiterverbreitet werden. Entweder das Opfer hat wenig an oder ist schlecht getroffen oder das Foto wird bewusst verfremdet. Ich sage den Kindern auch immer, dass sie nicht jedes Foto ihren Freunden schicken müssen.

Was kann man tun, wenn man Opfer geworden ist?

Man braucht eine gesunde Portion Selbstbewusstsein. Man sollte schauen, ob wirklich die ganze Klasse gegen einen ist, oder nur ein, zwei Anführer, und der Rest verhält sich still. Man sollte versuchen, aus der Isolation herauszukommen. Man sollte möglichst schnell Vertrauenspersonen suchen und sich denen anvertrauen. Dabei ist es gut, wenn diese Person den Täter nicht sofort bestrafen will, gerade in Schulen. Sondern wenn man ruhig überlegen kann, wie man gezielt die Strukturen, das Klassenklima verbessern kann. Am Ende arbeite ich mit allen drei Personengruppen: Kindern, Eltern, Lehrern.

Was sagen Sie den Lehrern?

Lehrer sollten sich überlegen, was sie genau tun können. In Klassen gibt es immer die gleiche Struktur: Zwei, drei aktive Mobber, der Rest sind Mitläufer, die schauen zu. An diese Gruppe muss man ran. Wenn die reagiert, wird den anderen deutlich: Mobbing dulden wir nicht. Man kann zum Beispiel mit der Klasse Regeln für die Gemeinschaft erarbeiten. Klare Absprachen treffen, die dann im Klassenraum aushängen.

Was raten Sie Eltern?

Bei Elternabenden sage ich immer: Hört euren Kindern zu, aber hängt euch nicht mit rein, wenn die Probleme gelöst werden. Das ist meist wenig nachhaltig, denn Eltern sind keine Richter. Wenn Eltern mit Lehrern oder anderen Eltern sprechen wollen, sollten sie vorher ihr Kind um Erlaubnis bitten. Ganz generell gilt: Eltern sollen ihre Kinder stärken, ihnen mindestens einmal am Tag sagen, wie toll sie sind und was sie alles gut können. In extremen Fällen, etwa wenn Kinder schon mehrere Monate nicht in der Schule waren, kann man darüber nachdenken, die Schule zu wechseln. Ansonsten ist Integration das oberste Ziel.

Würden Sie sich mehr Prävention im Landkreis wünschen?

In Freital haben wir mittlerweile ein tolles Netz von Schulsozialarbeitern. Ab nächstem Schuljahr soll es laut Gesetz zumindest an allen Oberschulen Sozialarbeiter geben. Von denen verspreche ich mir viel.

Wo finden Opfer sonst noch Hilfe?

Es gibt viele verschiedene Beratungsstellen. In Freital ist zum Beispiel „Weitblick“ zu empfehlen. Da bekommt man schnell einen Termin und nach dem Erstgespräch vermitteln die einen an die passende weiterführende Einrichtung. Das Internet sehe ich kritisch, da kursieren viele schlechte Tipps. So rate ich jedem ab, ein Mobbingtagebuch zu führen. Das ist selbstzerstörerisch. Die persönliche Beratung ist durch nichts zu ersetzen.

Das Gespräch führte Franz Werfel.