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Nach Adam Ries …

Überall im Erzgebirge trifft man auf Nachfahren des großen Mathematikers. Der Adam-Ries-Bund pflegt den weitverzweigten Stammbaum.

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Von Christina Wittich

Es ist so eine Sache, als Außenstehender ins Erzgebirge zu reisen. Das Erzgebirge ist eigen. Es ist das Weihnachtsland und will doch nicht nur das sein. Jedoch im ersten folkloristisch geprägten Moment erkennt der Auswärtige nur: Tradition. Die Menschen hier schnitzen gern und stellen ihre Kunst aus, die sehr oft sehr viel mit dem Bergbau zu tun hat. Und sie verkaufen sie in Massen. Auch ihre Klöppelarbeiten sind spitze und begehrt. Alles eher stille Arbeiten, und auch der Erzgebirgler spart gern mit den Worten.

So ist zwar bekannt, dass Rechenmeister Adam Ries vor rund 450 Jahren aus Franken nach Annaberg-Buchholz reiste und sich dort niederließ. In der heimlichen „Hauptstadt des Erzgebirges“ ist sein einstiges Wohnhaus seit Jahren ein Museum. Doch dass der Herr Ries hier in den Bergen nicht nur die Mathematik revolutionierte, römische Ziffern gegen arabische Zahlen austauschte, seine Lehrbücher auf Deutsch verfasste, damit ein jeder sie lesen konnte, sondern, mehr oder minder als Nebenprodukt seines langen Lebens, für den Fortbestand der Einwohnerschaft über Jahrhunderte sorgte – das erzählen sie immer erst, wenn man sie fragt.

Reinhard Looß zum Beispiel, Ries-Nachfahre in der 14. Generation, ist ziemlich unbeeindruckt von seiner Herkunft. „Ist ja auch nicht mein Verdienst“, sagt er. Der 58-Jährige stellt sich lieber vor als einer der Letzten seiner Zunft. Zumindest zu Vorführzwecken arbeitet der Schmiedemeister noch als Hammerschmied im Frohnauer Hammer. Seine Firma ist inzwischen spezialisiert auf Stahl- und Metallbau. Wenn er noch traditionell am Amboss steht, dann vor allem, um Hammerspitzen und Werkzeug herzustellen.

Bekleidet mit einer Lederschürze, blauem Hemd, Jeans und schweren Schuhen, führt er im einstigen Hammerwerk vor, wie es dazumal ausgesehen haben mag, wenn die schweren Hämmer das glühende Metall in Form schlugen. Ein vor allem akustisch beeindruckender Vorgang. Trotzdem sagt er: „Ich kann hoffentlich besser rechnen als schmieden.“ Denn Mathematik brauche man heute weit dringender als Metallarbeiten.

Wo der Hammer schlägt

In Reinhard Looß, diesem ruhigen Mann, vereint sich die Annaberger Geschichte, hier trifft das Erbgut des Rechenmeisters auf die Verwandtschaft von Barbara Uthmann. Die Unternehmerin lebte zur gleichen Zeit wie Adam Ries in Annaberg-Buchholz und beflügelte die Produktion und Vermarktung von handgeklöppelter Spitze aus dem Erzgebirge. Und von Familie Martin, in deren Besitz sich der Frohnauer Hammer über Jahrhunderte befand, trägt Reinhard Looß ebenfalls einen Teil in sich. „Mein Großvater stammt aus der Uthmann-Linie, meine Großmutter aus der Ries-Linie“, sagt er. „In meiner Mutter und deren Geschwistern vereinen sich beide.“

Die eigenen Wurzeln

Es war auch die Mutter, die das Stammbuch pflegte und die eigene Herkunft erforschte. In Mathe hatte er zwar immer eine Eins auf dem Zeugnis stehen. „Aber das macht ja nichts mit einem“, sagt Looß. Außer vielleicht, dass man sich aufgehoben fühlen könnte im Schoß einer außerordentlich großen Familie, deren Mitglieder noch dazu nicht allzu weit voneinander entfernt leben. Aber das sagt der Schmiedemeister nicht.

Vielmehr legt sich so eine Vermutung nahe, wenn man beim Adam-Ries-Bund vorbeischaut. Den Vorsitzenden des 1991 gegründeten Vereins trifft man in Chemnitz. Hier arbeitet Rainer Gebhardt. Der Professor leitet das Transferzentrum Textiltechnologie des Sächsischen Textilforschungsinstitutes an der Technischen Universität Chemnitz und wurde erst in diesem Jahr zum Honorarprofessor für Mathematikgeschichte an der TU Dresden berufen. Gebhardt, ein freundlicher, beflissener Mann, ist ebenfalls Ries-Nachfahre.

Erfahren hat er das von einem Freund, der seinen eigenen Stammbaum erforschte und so auf die zufällige Verwandtschaft stieß. „Im ersten Moment sagt einem das nicht so viel“, sagt Rainer Gebhardt. „Entweder man ist Ries-Nachfahre oder auch nicht. Erst wenn man sich mit Adam Ries selbst beschäftigt, merkt man, dass das eine gute Sache ist.“ Vor allem weil es wichtig sei, die eigenen Wurzeln zu kennen. Mehr als 35000 Personen führt der Adam-Ries-Bund in einer eigenen genealogischen Bibliothek. Das sind mehr als 20000 Nachfahren und deren Partner – im Laufe des vergangenen halben Jahrtausends. Bis in die 19. Generation können die Forscher den Stammbaum von Adam Ries zurückverfolgen. Ries heißen nur noch die wenigsten der Nachkommen. Laut Statistik ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich ein im Erzgebirge beheimateter Nestler, Süß, Hunger, Fritzsch, Gehler oder Lötzsch in die Großfamilie einreihen kann. Kaum einer von ihnen ist wie Gebhardt Mathematiker, die meisten waren oder sind Handwerker, Zimmerleute, Bauern, Schlosser, Handarbeiter, Posamentierer. Manche brachten es zu einigem Ruhm oder wenigstens Bedeutung: Benedictus Teubner, der Gründer des Leipziger Teubner-Verlages im 19. Jahrhundert, war ein Nachfahre und auch der Schriftsteller Max Walter Schulz genauso wie Barbara Klepsch, die Oberbürgermeisterin von Annaberg-Buchholz, und der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag, Steffen Flath.

Zertifikat für Verwandte

Sie alle sind lediglich die Nachkommenschaft von Adams Söhnen Abraham und Paul Ries. Der Rechenmeister hatte jedoch noch sechs weitere Kinder: Adam Ries Junior, Eva, Jacob, Isaac, Anna und Sibylla. Die Zahl ihrer bisher erforschten Kinder und Kindeskinder bewegt sich höchstens im zweistelligen Bereich. Von Adam Junior kennt man zumindest 14 Nachfahren. Von Sibylla immerhin einen – was jedoch nicht bedeute, dass es da niemanden weiter gebe, sagt Rainer Gebhardt. Man hat sie halt nur noch nicht gesucht und gefunden in den Kirchenbüchern und den Aufzeichnungen von Chronisten über das Heiraten, Leben und Sterben in einer Gemeinde.

Georg Gehler, oder der Gehler Schorsch, wie man im Erzgebirge zu sagen pflegt, kann man da keinen Vorwurf machen. Der 84-Jährige lebt im Crottendorfer Ortsteil Walthersdorf und folgt schon seit mehr als 40 Jahren der Linie des Adam Ries. Gemeinsam mit dem ebenfalls betagten Ries-Forscher Wolfgang Lorenz hat er ein Buch herausgebracht. Das ist schon eine Weile her, aber immer noch bekommt er regelmäßig Anfragen von potenziellen Nachfahren – und damit eigenen Verwandten –, deren Stammbaum zu untersuchen. Finden er oder jemand anderes vom Ries-Bund eine Verbindung, stellen sie ein Zertifikat aus.

Stolze Stammbäume

Georg Gehler, 16. Generation, sitzt in seiner Stube. Vor der Tür schneit Waltherdorf zu. Im Flur hängt der Stammbaum seiner Frau und, mit einem Lötkolben in eine Holzplatte gebrannt, sein eigener Stammbaum. Der Rentner redet langsam und bedächtig, den Blick gerade aus dem Fenster auf der Suche nach der Geschichte in seinem Kopf.

Seine Frau, ebenfalls 84 Jahre alt und 16.Generation, bietet Kuchen an. Der Hobby-Genealoge und einstige Landwirtschaftslehrer greift erst einmal nicht zur Gabel. Er erinnert sich, wie er die Leidenschaft seines Vaters fortführte, wie er als erwachsener Mann auf dem Krankenbett Kirchenbücher auf Karteikarten übertrug und damit die erste Datenbank anlegte und nicht mehr damit aufhörte. Die genealogische Ries-Forschung ist ein Hobby, ein Interesse am Leben eines bekannten Mannes und dessen Nachfahren. Ein Eintauchen in die Geschichte.

Es war zum Beispiel nicht so, dass sich ausgerechnet im Erzgebirge die Verwandtschaft nur untereinander vermehrte und es deswegen eine so große Zahl von Ries-Enkeln gibt, sagt Georg Gehler. Vielmehr sei das eher aus Versehen geschehen oder weil die Wege weit und die Welt vor Hunderten von Jahren eben noch viel kleiner war. „Teils kam das schon vor, dass Großcousins oder Cousins und Cousinen geheiratet haben“, sagt er. „Und innerhalb dieser kleinen Orte wie Cunnersdorf, Sehma, Walthersdorf, Schlettau, Wiesa, Schönfeld, Tannenberg, da hat man ja auch viel die Frau oder den Mann in der Nachbarschaft gesucht und gefunden.“ Viele Kinder wurden geboren, die wiederum viele Kinder in die Welt setzten, die fort zogen, die Zugezogene heirateten. Ihre Verwandtschaft mit dem großen Mathematiker ist nicht viel mehr als eine schöne Tradition. Eine, wie man sie nur im Erzgebirge findet.