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„Nicht alles hat sich zum Guten verändert“

Gasthöfe gibt es viele rund um den Tharandter Wald. Aber das Haus „Zu den Linden“ in Mohorn-Grund ist etwas besonderes, denn seine Geschichte spiegelt den Lauf des 20. Jahrhunderts. Am Montag wird das letzte Kapitel aufgeschlagen.

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Von Christian Eißner

Siegfried Börner war Tischler. „Sehen Sie sich diese Fenster an“, sagt er begeistert. „Alles von Hand gehobelt, Maschinen gab’s damals hier ja noch nicht. Sowas macht Ihnen heute keiner mehr.“ Die Fensterrahmen hat der Großvater hergestellt in seiner kleinen Werkstatt in Mohorn-Grund, damals, 1904, als der Gasthof „Zu den Linden“ die größte Baustelle im Ort war. Der Enkel des Fensterbauers, selbst längst Rentner, steigt durch das halb verfallene Gebäude und hinterlässt Fußstapfen in der Schlammschicht, mit der das Bächlein Triebisch das Parkett überzog im Flutsommer 2002.

„Hier war der Saal“, erklärt Börner mit einer ausladenden Handbewegung. Im Winter durfte der Turnverein von Grund hier seine Übungen machen. Der Gasthof war das einzige Haus, das Zentralheizung hatte. „Und oben waren die Gästezimmer. Da durften wir als Kinder nie rein. Das Fräulein hat uns fortgejagt“, erzählt er weiter und lacht. So wie er könnten sicher viele ältere Einwohner Geschichten vom Gasthof erzählen. Und die etwas jüngeren sind im selben Haus vielleicht zur Schule gegangen.

1905 eröffnete Curt Clauß die Pension und den Gasthof „Zu den Linden“ in Grund. Die beiden Linden, die das Sandsteinportal flankierten, gaben dem Haus seinen Namen. In den weitläufigen Garten pflanzte Clauß Kastanien. Die Wirtschaft legte er großzügig an, war doch der Tharandter Wald eines der beliebtesten Sommer-Ausflugsziele der Dresdner.

Nach mehreren Betreiberwechseln übernahm 1918 der Arnhold’sche Pensionsverein die Geschicke des Ferien-Domizils. Den Gebrüdern Arnhold aus Dresden gehörte eine der größten deutschen Privatbanken, in ihren Pensionsverein zahlten bis zu 79 Unternehmen ein, darunter so bekannte wie die Radeberger Exportbierbrauerei. Ihre Mitarbeiter konnten die Betriebe zur Erholung nach Grund schicken – und in drei weitere Häuser, die der Verein in prominenten deutschen Feriengebieten unterhielt: in Tiefenbach im Schwarzwald, in Kampen auf Sylt und auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden.

Verlaust und verdreckt

auf Stroh

Arnholds waren Juden. Die Nazis raubten ihren Besitz, die Herberge in den Alpen wurde zum Gästehaus von Hitlers „Alpenfestung“ am Obersalzberg. Statt der Erholungssuchenden nächtigte hier nun Mussolini. Heute steht auf den Grundmauern des Gebäudes ein Dokumentationszentrum. Auch die „Linden“ rissen die Nazis an sich. Am Tharandter Wald fanden Parteischulungen der NSDAP statt, bevor man den Gasthof 1942 schließlich zur Haushaltsschule des Bundes Deutscher Mädel (BDM) umbaute. Junge Frauen sollten hier während einer zweijährigen Ausbildung für ihren Einsatz auf großen landwirtschaftlichen Gütern im okkupierten Osten vorbereitet werden.

Als Mitte Februar 1945 ausgebombte Dresdner Familien ein Dach über dem Kopf suchten, waren die Mädels weg. Ab März füllte sich das Haus mit Flüchtlingen. „Mit anderen Umsiedlern und Ausgebombten kampierten wir ihrer fünfzig verlaust und verdreckt und erschöpft in einem einzigen Raum auf Stroh“, schreibt eine Zeitzeugin. Auch Siegfried Börners spätere Frau schlief nach ihrer Flucht aus Schlesien auf dem Stroh in den „Linden“. Am 7. Mai zog die sowjetische Armee in Grund ein. Ein Panzer rasierte die Hälfe des Hauses neben dem Gasthof weg.

Das Flüchtlingslager wurde 1946 zur Volksschule, und wieder baute man um, wie ein Schreiben an den „Herrn Landrat zu Dresden“ beweist – mit der Bitte, die Lieferung von 8 000 Ziegeln anzuweisen. Dass es beim Umbau nicht eben zimperlich zuging, davon künden heute dicke Risse in den tragenden Wänden. Hinter den großen Bogenfenster des Erdgeschosses entstanden Klassenräume, im ersten und zweiten Stock wohnten die Lehrer. Anfang der 70er Jahre – das Gebäude genügte nicht annähernd den Anforderungen an eine moderne Schule – zogen die Schulkinder aus.

Das Haus dämmerte vor sich hin. Über das vom Pensionsverein gebaute Schwimmbecken im weitläufigen Garten wuchs Gras, die Holzkegelbahn hatte man abgerissen. Durch die 90er Jahre zog sich ein Rechtsstreit über die Rückgabe des Besitzes an die Erben der Familie Arnhold, der erst 2002 entschieden wurde. Das Haus, das im August desselben Jahres über einen Meter tief in den reißenden Fluten der Triebisch stand, fiel an die Stadt Wilsdruff. Einen Investor konnte die Stadtverwaltung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr begeistern.

„Vieles hat sich verändert, aber nicht alles zum Guten“, sagt Siegfried Börner und wirft einen letzten Blick auf die bröckelnde Fassade des einstigen Schmuckstücks. Am Montag rollen die Abrissbagger an.

Ausstellung zur Geschichte des Gasthofs „Zu den Linden“, organisiert von Mike Schmeitzner, im Bürgerbüro Mohorn. Geöffnet ist donnerstags von 8 bis 12 und von 13 bis 18 Uhr.