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Nie wieder Knast

Rainer Hüttel hat fast sein ganzes Leben im Gefängnis und in der Psychiatrie zugebracht. In Görlitz will er endlich raus aus dem Elend. Geht das noch?

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© Jürgen Lösel

Von Olaf Kittel

Sein Gesicht ist grau, er war in seinem Leben nicht sehr oft an der frischen Luft. Und so fühlt sich Rainer Hüttel auch. „Alt, uralt“, obwohl er noch nicht weit über die 50 ist. „Wäre mein Leben anders gelaufen und hätte ich zwei Porsche in der Garage, dann hätte ich jetzt noch ein schönes Leben vor mir. Aber so? Nach vielen Jahren im Knast und 25 Jahren in der Psychiatrie wird das nichts mehr. Kein Geld, kein Job, keine Kraft. Ich will jetzt nur noch meine Ruhe.“

Nichts mehr als diese Ruhe wünschen ihm die Mitarbeiter des Vereins für Straffälligenhilfe in Görlitz, die Rainer Hüttel betreuen. Sie bauen darauf, dass er jetzt auch Ruhe gibt. Dass er genug hat vom weggesperrt sein und vom Ärger mit allen und jedem. Die Frage bleibt: Schafft er das? Geht das überhaupt nach so einem Leben?

Rainer Hüttel wurde Anfang der 60er- Jahre in Süddeutschland geboren. Seine Mutter fühlte sich nach der Geburt überfordert, der Vater saß gerade im Gefängnis. Sie gab den Säugling zur Adoption frei. Er kam in eine gut situierte Beamtenfamilie mit strengen Regeln, sehr religiös. Ihre Ordnung bringt er schon als Knirps schwer durcheinander, kommt als Achtjähriger spät nach Hause, begeht den ersten Ladendiebstahl. Er gilt fortan als familienunfähig, wird drei Jahre in ein Krankenhaus gesteckt. Aber die Ärzte können keine medizinisch definierbaren Auffälligkeiten entdecken. Er kommt ins Heim.

Dort verbringt er seine Jugendjahre, fühlt sich zunächst gut integriert. Er lernt Flöte, spielt Theater und engagiert sich beim Handball. Aber dann geht es doch los mit Diebstählen und diversen Schlägereien. Mit 17 kommt er in ein strenges Erziehungsheim. „Es war wie ein Gefängnis.“ Die Strenge bewirkt bei ihm nichts. Er fliegt auch hier raus. Die Adoptiveltern nehmen ihn noch einmal auf und suchen Arbeit für ihn. Es klappt auch, er wird Beifahrer in einer Spedition. Es gefällt ihm dort sehr gut. Diesmal ziehen ihn die Kumpels wieder runter. Er macht bei Wohnungseinbrüchen mit. Dann bei einem Raubüberfall. Er sollte Schulden eintreiben und wird geschnappt. Mit 19 steht er zum ersten Mal vor Gericht, wird zu drei Jahren Jugendgefängnis verurteilt. „Die erste Haft war ein schreckliches Erlebnis“, sagt er heute.

Nach der Entlassung geht es weiter. Wieder Einbrüche, es kommt zu einer Schießerei mit der Polizei, zum Glück gibt es keine Verletzten. Diesmal wird Hüttel verminderte Schuldfähigkeit attestiert und zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Danach kommt er in eine streng gesicherte Psychiatrie in Süddeutschland. Dort wird er die nächsten 25 Jahre verbringen und andauernd Körbe flechten. Am Ende dieser Zeit scheint die Erlösung in Form eines neuen Gutachtens nah, verfasst vom deutschen Gutachterpapst Hans-Ludwig Körber persönlich. Der Professor kommt kurz und präzise zum Schluss: Es war damals eine Fehleinweisung.

Jetzt träumt Rainer Hüttel von der Freiheit und womöglich einer sechsstelligen Entschädigungszahlung. Aber es kommt anders: Eine Entschädigung müsste er einklagen, womöglich durch alle Instanzen. Und nach der Entlassung aus der Psychiatrie muss er noch seine ausstehende Haftstrafe voll verbüßen, noch mal dreieinhalb Jahre – bis Sommer 2014. Er kann die Enttäuschung bis heute nicht verwinden.

Als diese Zeit zu Ende geht, will er nur noch weg. Weg aus dem Knast, weg aus Süddeutschland. Ein Bezugsbeamter auf der Sozialstation empfiehlt ihm Görlitz, dort kennt er jemanden. Das sei weit weg, und dort sei es billig – Essen, Miete, Zigaretten. Das überzeugt ihn. Es wird ein Kontakt zur Straffälligenhilfe und zu Doris Brauer hergestellt. Sie nimmt ihn auf. Er erhält in einer WG des Vereins erst einmal ein Dach über dem Kopf, bekommt Hilfe bei der ersten Ausstattung. Er ist zugänglich, alles scheint auf gutem Weg. Aber nach einem halben Jahr in Görlitz steht doch wieder die Polizei in der Tür und nimmt Hüttel fest. Einbruch. Wieder muss er zwei Jahre ins Gefängnis. Frau Brauer ist enttäuscht, aber sie hält den Kontakt, besucht ihn jeden Monat. Als Einzige, sonst kennt er ja niemanden hier. Sie planen gemeinsam die Zeit nach der Entlassung im Juni 2017.

Wieso, Frau Brauer, gehen Sie davon aus, dass dieser Mann jemals zur Ruhe kommt? Ist das nicht vergebliche Liebesmüh? Verdient er Hilfe von Lichtblick, die für Menschen in Not gedacht ist?

Die erfahrene Sozialarbeiterin lässt sich nicht beirren. Was die Alternative sei? Straffällige einfach machen lassen? „Nein“, sagt Doris Brauer energisch, „was wir tun, ist Dienst an der Gesellschaft.“ Sie wolle ihre schwierigen Schützlinge ganz sicher nicht zu besseren Menschen machen, sondern sie nur in der Spur halten. „Fast alle sind sehr, sehr einsam. Sie nehmen unsere Hilfe gern an und sind dankbar.“ Gerade mit älteren Straffälligen hat sie gute Erfahrungen gemacht. Die sind durchaus ansprechbar, viele schaffen es tatsächlich, nicht wieder kriminell zu werden. Leider im Gegensatz zu vielen Jüngeren, denen immer öfter alles egal ist.

Diese Trends kann sie auch mit Zahlen belegen. Von den 269 Klienten, die seit 1996 im Wohnprojekt des Vereins für Straffälligenhilfe beteiligt waren, weiß sie bei einem Viertel nicht Bescheid, weil die Betroffenen weggezogen sind. 29 Prozent wurden wieder straffällig. Aber 44 Prozent sind sauber geblieben. Das ist ein vergleichsweise sehr guter Wert, Doris Brauer ist stolz darauf. Dafür nimmt der Verein alle möglichen Schwierigkeiten in Kauf – und überwindet sie. Wer vermietet schon gern seine Wohnung an ehemalige Häftlinge? Wer kann schon ermessen, was es bedeutet, Beschäftigungsmöglichkeiten, gar Arbeit für sie zu finden? Doris Brauer versteht sich außerdem als Haushalts- und Schuldnerberaterin, Arztbegleiterin und Kulturbeauftragte, die Weihnachtsfeiern organisiert und Mitspieler für Skatrunden sucht, wenn eine Dreierrunde nicht komplett ist. Sie kümmerte sich auch um eine kleine Lichtblickspende. Aus pädagogischen Gründen beantragt sie allerdings nur Hilfen bis 100 Euro. Rainer Hüttel konnte sich davon immerhin eine Mikrowelle und einen Staubsauger kaufen. Er und Frau Brauer sind den SZ-Lesern sehr dankbar für diese Hilfe. Schließlich regte sie an, dass er sich eine Katze zulegt. Damit er was zum Kuscheln hat und nicht so viel allein ist. Wie ist denn nun Ihre Prognose für ihn, Frau Brauer? „Ich bin eigentlich sicher, dass er es schafft. Er ist alt, er ist müde. Er hat genug.“ Und Ihre eigene Prognose, Herr Hüttel? Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie jetzt in der Spur bleiben?

„Ich sag mal, zu 95 Prozent. Ich sag nicht 100 Prozent, weil ich das zu oft gehört habe und es dann doch nichts wurde. Aber ich will es unbedingt. Und wer sollte sich sonst um meine Katze kümmern?“