Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
Merken

Nur die halbe Wahrheit

Nach Görlitz kommen immer mehr Touristen. Aber die Auslastung der Hotels sinkt angeblich. Kann das stimmen?

Teilen
Folgen
NEU!
© nikolaischmidt.de

Von Frank Seibel

Zahlen, sagt man, sind so schön eindeutig. Objektiv gewissermaßen. Das würde auch Gunnar Buchwald nicht bestreiten. Doch der Inhaber des Hotels „Zum Hotherturm“, zwischen Altstadt und Nikolaivorstadt gelegen, weiß auch, dass nackte Zahlen in die Irre führen können. Wenn er in seine Buchungs-Unterlagen im Computer schaut, sagen die Zahlen gelegentlich etwas ganz anderes als jene, die das Statistische Landesamt zum selben Thema veröffentlicht: Tourismus in Görlitz.

Im vergangenen Jahr sagten die Zahlen vom Statistik-Amt, dass alles super läuft an der Neiße: Mehr Gäste, mehr Übernachtungen, eine bessere Auslastung der Hotels und Pensionen als noch im Jahr zuvor. „Davon habe ich leider gar nichts gespürt“, sagt Buchwald, der häufig auch als Stadtwächter bei Führungen durchs historische Görlitz zu sehen ist.

In diesem Jahr ist es umgekehrt: Die Statistik sagt, dass in den ersten vier Monaten zwar die Zahl der Gäste um 12,4 und die der Übernachtungen um 15,6 Prozent gestiegen ist – die Auslastung der Hotels in Görlitz sei aber gesunken: auf 23 Prozent bei Hotels mit Restaurant und auf 30,2 Prozent bei Hotels garnis, die nur ein Frühstück anbieten.

Gunnar Buchwalds Haus mit 18 Zimmern ist ein solches „Hotel garni“. Aber von einer geringeren Auslastung merkt er nichts. Zum Glück, schiebt der 46-Jährige hinterher. Denn das vergangene Jahr war aus unerfindlichen Gründen das schwierigste, seit er vor neun Jahren sein Haus eröffnet hat.

In diesem Jahr läuft’s wieder, und so kann er jeden Tag ohne mulmiges Gefühl auf die Baustelle nebenan im Nikolaigraben 27 gehen. Dort hat er in den vergangenen eineinhalb Jahren aus einer Ruine, die nur noch aus einer Fassade über zwei Etagen bestand, ein schmuckes „neues“ Altstadthaus mit drei Stockwerken und ausgebautem Dach errichtet. „Gästehaus am Hothertor“ steht schon darauf. Aber fertig ist das Haus noch längst nicht. In Eigenarbeit richtet Gunnar Buchwald vier Ferienwohnungen her. „Schritt für Schritt, je nachdem, wie das Geld reicht“, sagt der Hotelier, der sich mit dem Bauen auskennt. Ursprünglich war er Klempner von Beruf und machte den Tourismus erst nach und nach zum Beruf. Zunächst als origineller Stadtführer, dann als Reiseleiter, dann als Betreiber eines Reisebüros und schließlich als Inhaber seines Hotels. Den Beschluss, Hotelier zu werden, fasste Gunnar Buchwald vor gut zehn Jahren. Damals war die Kulturhauptstadt-Bewerbung in vollem Gange, Görlitz war viel in den Medien, und immer mehr Menschen kamen, um die schöne Stadt zu entdecken. Am Ende hat zwar Essen gegen Görlitz den Wettlauf um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2010“ gewonnen, aber seine Entscheidung hat Gunnar Buchwald nie wirklich bereuen müssen.

Auch Frank Wilkens hat nach eigener Aussage noch nichts von einer schwächeren Auslastung gemerkt. Er betreibt seit sechs Jahren das Hotel „Alt-Görlitz“ in der Konsulstraße, ebenfalls ein „garni“. „Bis jetzt hatten wir jedes Jahr einen Zuwachs“, sagt er. Und das sowohl im Hotel als auch bei den Ferienwohnungen, wobei Familien eher Ferienwohnungen bevorzugen, Gäste ohne Kinder eher das Hotel.

Und wie sieht es in einem Hotel aus, das mit einem richtigen Restaurant ausgestattet ist? Vor sieben Jahren hat Roland Marth das Hotel am Marienplatz gekauft, das bis dahin zur Kette „Sorat“ gehörte. „Zum Goldenen Strauß“ heißt das Haus seither, und der Erfolg ist auch für Passanten zu beobachten: Der Frühstücksraum ist meist gut besetzt, abends dinieren hier zahlreiche Gäste, Autos fahren vor zum Be- und Entladen von Koffern. Es ist viel Bewegung im „Goldenen Strauß“. Das bestätigt auch Roland Marth, der sich über einen stetigen Zuwachs an Übernachtungsgästen freut. Roland Marth macht auch auf einen Haken in der Statistik aufmerksam. „Es ist ein großer Unterschied, ob man die Auslastung der Betten zählt oder die der Zimmer.“ Denn wenn ein Doppelzimmer für nur einen Gast vergeben wird, gilt es im einen Fall nur zur Hälfte als vermietet, im anderen komplett. Die Wahrheit liegt aber dazwischen. Denn an einen Einzelgast wird ein Doppelzimmer nicht zum halben Preis vergeben.

Beim Statistischen Landesamt wurde bis zum vorigen Jahr nur die Auslastung der Betten gezählt. Seit diesem Jahr geben Herbergsbetriebe in der Statistik auch die Zahl der vermieteten Zimmer an. Wie sich diese Zahlen entwickeln, lässt sich dann ab dem nächsten Jahr ablesen.

Eine Auslastung von nur 20 bis 30 Prozent halten die Görlitzer Hoteliers für unrealistisch. Nicht nur, weil zum Altstadtfest Ende August regelmäßig alle verfügbaren Zimmer ausgebucht sind. Auch an vielen anderen Wochenenden im Jahreskreis sind die Hotels gut gefüllt. Und das, obwohl in den vergangenen fünf Jahren mehrere Hotels mit insgesamt rund 100 Doppelzimmern hinzugekommen sind: Emmerich, Schwibbogen, Italia, Paul Otto und, in der Südstadt, das Best Western.

Bei der Europastadt Görlitz-Zgorzelec GmbH (EGZ), die für die Wirtschafts- und Tourismusförderung in der Stadt zuständig ist, beobachtet man noch einen anderen positiven Trend. Ganz langsam verlängert sich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer. In den ersten vier Monaten des Jahres blieben Görlitz-Touristen im Schnitt 2,2 Tage und Nächte. Damit bewegt man sich schrittweise weg von der Zwei-Tage-Marke, die noch vor fünf, sechs Jahren wie eine feste Größe stand. Und dieser Trend dürfte sich im Sommer noch verstärken. Denn während der Ferien kamen und kommen zunehmend Familien nach Görlitz. Und die nehmen mit Vorliebe Ferienwohnungen und bleiben auch gerne mal länger als zwei Nächte hier, sagt Anja Schließ, die Pressesprecherin der EGZ. Aus Sicht der städtischen Tourismus-Vermarkter wird dabei das Umland immer wichtiger. „Wir haben nicht nur eine wunderschöne Altstadt, sondern auch den Berzdorfer See“, sagt Anja Schließ. Dazu der Neißeradweg, das Zittauer Gebirge und weitere Attraktionen in der Region, die zum „Längerbleiben“ einladen.

Vielleicht wird Gunnar Buchwald im nächsten Sommer ebenfalls von diesem Trend profitieren. Dann will er seine Ferienwohnungen im neuen Gästehaus anbieten können. Vor weiterer Konkurrenz in Görlitz ist ihm erst einmal nicht bange. Aber mit etwas Unbehagen schaut er über die Grenze. Direkt an der Altstadtbrücke steht am Zgorzelecer Postplatz ein riesiges Hotel, das von außen schon lange fertig scheint. Doch hinter den vorgetäuschten Altstadt-Fassaden des Betonkomplexes tut sich noch wenig. Wenn dieses Haus aber an den Start gehen sollte, könnte es für die Görlitzer Betriebe schon eine Konkurrenz werden, ahnt Buchwald. In der Gastronomie ist das jetzt schon zu spüren. Das liegt nicht nur an den günstigen Preisen in Polen. Auch die Lage am östlichen Neißeufer ist perfekt: mit herrlichem Blick auf die Peterskirche und die Görlitzer Altstadt.