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Nur nicht krank werden

Im Norden von Zittau haben viele keinen Hausarzt mehr. Schnelle Hilfe tut Not, wie der Fall Annemone Fehrmann zeigt.

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© Rafael Sampedro

Von Jan Lange

Früher bekam Annemone Fehrmann stets Großpackungen mit 100 Tabletten. Damit kam die Schleglerin drei Monate aus. Doch seitdem ihr Hausarzt Dr. Günther Jähne seine Praxis in Wittgendorf geschlossen hat, ist alles anders. Die 59-Jährige fand bis heute keinen neuen Hausarzt. In zehn Praxen hat sie angerufen, erzählt Frau Fehrmann. Die Antworten waren immer gleich: „Wir sind voll“ oder „Wir können keine neuen Patienten aufnehmen“ bekam sie von den Schwestern zu hören. Die Suche gab sie inzwischen auf.

Täglich eine Handvoll Medikamente

Dabei bräuchte sie dringend einen neuen Hausarzt. Täglich nimmt sie eine Handvoll Medikamente ein, allein drei gegen zu hohen Blutdruck, eines für den Magen und diverse Schmerztabletten. Dr. Jähne habe ihr kurz vor seinem Abschied alle Tabletten doppelt und dreifach verschrieben, um die erste Zeit zu überbrücken. Doch nach mehr als vier Monaten gehen diese Medikamentenvorräte so langsam zur Neige. Beim einzigen verbliebenen Allgemeinmediziner in den nördlichen Zittauer Ortsteilen, Dr. Ingolf Brückner, kann sie sich neue verschreiben lassen. Der Hirschfelder Hausarzt stellt übergangsweise Rezepte für frühere Patienten von Dr. Jähne aus. Neue Patienten nimmt aber auch er nicht auf.

Für „fremde“ Patienten Rezepte auszuschreiben, darf aber keine Dauereinrichtung werden, meint der Oderwitzer Arzt Dr. Gottfried Hanzl, der auch Regionalvertreter der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsens ist. Eine Lösung wäre ein zweiter Allgemeinmediziner fürs Niederland. Doch der ist bis heute nicht in Sicht. Zwischenzeitlich hatte es Interesse eines Horkaer Arztes gegeben, eine Praxis in Hirschfelde zu eröffnen. Die Überlegungen waren schon so konkret, dass ein Objekt gefunden und die notwendigen Umbaumaßnahmen mit dem Eigentümer und Baubetrieben besprochen waren. Anfang Juli kam jedoch die überraschende Absage. Mittlerweile ist der Horkaer Hausarzt aus Altersgründen in seine bisherige Nebenbetriebsstätte nach Klitten bei Boxberg umgezogen und hat den Standort Horka aufgegeben.

Auch Annemone Fehrmann hatte sich darauf verlassen, dass ein neuer Hausarzt kommt und Jähnes Patienten übernimmt. Deshalb kümmerte sich die 59-Jährige lange nicht um einen anderen Hausarzt. Als Anfang September der Rückzug des Bewerbers bekannt wurde, war es zu spät. Die meisten Praxen hatten bereits einige neue Patienten aufgenommen und nun weitere Neuaufnahmen gestoppt. In weiter entfernten Praxen wollte sich Frau Fehrmann gar nicht erst erkundigen. „Es kann doch nicht sein, dass man mehr als 30 Kilometer zum Hausarzt fahren muss“, meint sie empört.

Sie wandte sich deshalb auch an das sächsische Sozialministerium. Die Suche nach einem neuen Hausarzt habe für die Kassenärztliche Vereinigung weiter hohe Priorität, heißt es in dem Antwortschreiben. Eine kurzfristig wirksame Hilfe könne das Ministerium aber nicht anbieten, teilt Andrea Keßler, Leiterin des Referats Krankenversicherung und Vertragsarztrecht, mit. Nach Einschätzung des Ministeriums müssen sich die Patienten perspektivisch auf längere Anmeldezeiten und weitere Wege einstellen.

Jedes Rezept eines „fremden“ Patienten schmälert das Volumen an Arzneimitteln

Die Magentabletten Pantoprazol musste sich Frau Fehrmann bereits in Dr. Brückners Praxis nachholen. Und bekam lediglich eine kleine Schachtel mit 30 Stück verschrieben. Denn jedes Rezept eines „fremden“ Patienten schmälert das Volumen an Arzneimitteln, die der Hirschfelder Arzt monatlich verordnen darf. Die anderen Medikamente werden noch etwa eineinhalb Monate reichen. Damit müsste Frau Fehrmann kurz vor Weihnachten neue holen – also zu einem Zeitpunkt, wo die Etats der Hausärzte oft schon ausgeschöpft sind. Mit den 30 Magentabletten kommt die Schleglerin einen Monat über die Runde. Für sie bedeutet das, künftig öfter zum Arzt fahren zu müssen.

„Dr. Jähne fehlt uns sehr“, sagt Frau Fehrmann. „Er hat auch zugehört, wenn es familiäre Probleme gab.“ Gerade in den vergangenen Wochen hätte sie jemanden zum Zuhören gebraucht. Denn ihr Schwiegervater war mit 61 Jahren völlig unerwartet verstorben. „Die gesamte Familie steht noch immer unter Schock.“ Diese Aufregung ist für ihren Blutdruck nicht gut. Früher hatte Dr. Jähne die Blutdruckwerte alle vier bis fünf Wochen kontrolliert. Seit seine Praxis zu ist, fand keine einzige Kontrolle statt. Gesund ist das auf Dauer nicht.