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Ohne die Kleine wär’ das Leben ganz komisch

Die zehnjährige Marie-Luise Scheffler lebt ein bisschen verkehrte Welt. Schon als Baby wohnte sie bei ihren Urgroßeltern in Großenhain. Ihre Eltern dagegen besucht sie nur hin und wieder. Der Grund: Die Mama und der Papa von Marie-Luise sind Schausteller, haben einen Imbiss und ein Kinderkarussell.

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Von Kathrin Krüger-Mlaouhia

Die zehnjährige Marie-Luise Scheffler lebt ein bisschen verkehrte Welt. Schon als Baby wohnte sie bei ihren Urgroßeltern in Großenhain. Ihre Eltern dagegen besucht sie nur hin und wieder. Der Grund: Die Mama und der Papa von Marie-Luise sind Schausteller, haben einen Imbiss und ein Kinderkarussell. Zur Zeit sind sie vier Wochen auf einem Markt in Leipzig, ziehen dann nach Magdeburg und später nach Thüringen weiter. Die Wohnung von Marie-Luises Eltern ist in Machern bei Leipzig. Doch zu Hause ist die Zehnjährige eigentlich an der Röder.

Schon die Mutter war als Kind bei den Großeltern

Gleich als das Mädchen geboren wurde, war sich Brigitte Thor mit ihrem Mann Roland einig: Wir nehmen die Kleine zu uns. Das ist doch besser als diese Rumzieherei. Damals war Brigitte Thor 62, hatte aufgehört als Verkaufsstellenleiterin bei der HO zu arbeiten. Schon Marie-Luises Mutter Diana, also ihre Enkeltochter, war lange Zeit bei den Thors in Großenhain. Denn auch sie ist ein Kind von Schaustellern.

„Alles begann mit dem Mann, den unsere Tochter Karin kennen lernte“, erzählt Brigitte Thor. Der war mit einem Kettenkarussell und einem Schießwagen auf dem Großenhainer Stadtfest. So kam die Schaustellerei in die Familie, doch Brigitte und ihr Mann Roland waren anfangs sehr dagegen. Später konnten sie sich damit anfreunden. Sie wurden zu DDR-Zeiten als Familienanhang sogar mit in den Kreis der Schausteller aufgenommen. Die Betreuung des Nachwuchses bei sich zu Hause zu übernehmen war für Brigitte Thor deshalb keine große Überwindung. „Marie-Luise ist unser ein und alles“, so die Uroma.

Die Deutsch-Aufgaben macht sie mit mir

Die Großenhainerin und ihr Mann brachten Marie-Luise das Schwimmen, Radfahren und Schlittschuhlaufen bei. Sie fahren regelmäßig mit ihr in den Urlaub und gaben sie schon als Vorschulkind in den Großenhainer Tanzzirkel. Die Viertklässlerin besucht die 1. Großenhainer Grundschule, Uropa Roland bringt sie jeden Morgen hin und holt sie wieder ab.

Bei den Urgroßeltern auf der Mozartallee hat Marie-Luise ein eigenes Zimmer mit Fernseher und Computer. „Hier fühle ich mich wohl“, sagt die blonde Zehnjährige. Neben dem Tanzzirkel, wo ihre Freunde sind, geht sie auch gern schwimmen. „Jede Woche fahren wir zwei Mal ins Meißner Wellenspiel“, erzählt Roland Thor. Bei den Hausaufgaben erweisen sich die Urgroßeltern als wahre Könner. „Die Deutsch-Hausaufgaben macht sie immer mit mir“, so Brigitte Thor. Ihr Mann kann als früherer Lehrausbilder in der Schmiede bei den anderen Fächern gute Hinweise geben. Sollte Marie-Luise doch mal was nicht verstehen, kann sie immer noch eine Lehrerin fragen.

Voriges Jahr war Marie-Luise mal fünf Wochen mit ihren Eltern „auf der Reise“. Brigitte Thor musste sich in der Zeit einer Magenoperation unterziehen. Allein in diesen fünf Wochen erlebte die Kleine sieben Schulen in unterschiedlichen Bundesländern. Ihre Leistungen sackten total ab. Das Mädchen konnte nicht anders, als einen Brief an die Uromi zu schreiben: „Ich will wieder zur dir.“ Sofort als Brigitte Thor aus dem Krankenhaus zurück war, nahm sie sie wieder zu sich. Zum Glück waren gerade Sommerferien.

Es ist ungewiss, was die Zukunft bringen wird

Nun ist Marie-Luise zwar für die Mittelschule am Schacht angemeldet. Aber ihre Eltern wollen das Mädchen gern zu sich nehmen. Denn mittlerweile ist ein Brüderchen geboren und lebt auch mit im Wohnwagen. Marie-Luise fühlt sich jetzt hin und her gezogen, will später auch mal dieses freie Leben leben. Und eigentlich ebenso einen „sesshaften“ Beruf erlernen wie Masseuse oder Friseuse.

Brigitte Thor und ihr Mann Roland hoffen sehr, dass das Mädchen bei ihnen bleibt. Sie fühlen sich als Ersatzeltern noch fit. „Ohne die Kleine gäbe es hier in der Wohnung eine große Leere, es wäre wie ausgestorben“, meint die Urgroßmutter. Alle Kosten für das Mädchen bezahlt sie aus eigener Tasche. Da gibt’s für sie überhaupt keine Frage.