Merken

Oma Gisela mag Techno

Gisela Pfenniger wurde am 13. Februar 1945 in Dresden unter Trümmern verschüttet. Heute lebt sie in Görlitz, liebt Musik und hasst den Krieg. In den Clubs ist sie Stammgast.

Teilen
Folgen
© kairospress

Von Susanne Sodan

Die olivgrüne Bluse mit der Schleife am Kragen. Oder doch lieber die ärmellose, goldfarbene? „Da müsste ich aber ein Jäckchen drüberziehen“, sagt Oma Gisela. Also lieber die olivgrüne Bluse. Heute vor 71 Jahren irrte sie mit einer zerschnittenen Skihose und rußgeschwärzt durch Dresden. „Manchmal lege ich Lippenstift auf“, erzählt Oma Gisela. Wenn sie ins Theater geht zum Beispiel. Heute ist kein Theater-Tag, heute ist Pub-Tag. Eigentlich wäre heute Museums-Tag. „Ich bin Mitglied beim Förderverein des Görlitzer Naturkundemuseums“, erzählt Oma Gisela. „Dort ist heute ein Vortrag. Aber mich reizt die Musik mehr.“ Im Kings Pub Görlitz spielt an diesem Abend der Blues-Künstler Lutz „Kowa“ Kowalewski. Das Hörgerät nimmt Oma Gisela mit, den Krückstock nicht. Ist schließlich keine Rentner-Veranstaltung.

Oma Gisela heißt in Wirklichkeit Gisela Pfenniger. Sie duzt jeden, und deshalb darf auch jeder sie duzen. „Die meisten sagen zu mir Gisela oder tatsächlich Oma“, erzählt sie. Oder eben beides. In Görlitz ist sie dort bekannt, wo junge Menschen sind: bei den Konzerten im Kühlhaus zum Beispiel. Der Anblick ist grandios. Oktober 2015: Auf der Bühne steht die Band A Forest – Indie- und Elektroklänge, viel Synthesizer, starkes Schlagzeug, ein bisschen Soul. Davor steht und tanzt das passende Publikum, viele Studenten, Leute bis Mitte 30. Und da läuft diese zierliche, alte Frau mit ihrem weißen Haarschopf, leicht gebeugt durch die Menge. „Die meiste Zeit habe ich bei diesem Konzert in einem der Sessel gesessen“, sagt sie. Die Sessel im Kühlhaus sind beliebt, Oma Gisela bekommt immer einen ab. Der Vorteil, wenn man beim Konzert der Älteste ist, 85 Jahre.

„Sie sitzt auch nicht immer nur im Sessel bei den Konzerten“, erzählt Danilo Kuscher, Betreiber des Kühlhauses. „Manchmal geht sie auch auf die Bühne und schnappt sich das Mikrofon.“ Dann bedankt sich Oma Gisela bei den Veranstaltern, bei den jungen Leuten, die was auf die Beine stellen. Oft ist ein politischer Appell dabei: dass alle zusammenhalten sollen, dass sie friedlich bleiben sollen. Nie wieder Krieg. „Jeder, der mich kennt, weiß, dass bei mir immer irgendwann das Thema auf den Krieg kommt.“ Gisela hasst ihn. Und liebt Musik. Aber noch mehr mag sie junge Menschen. „Ich würde mich vielleicht weniger um die Jugend kümmern, wenn meine eigenen Enkel und Urenkel hier in der Gegend wären“, überlegt Gisela. Sie hat drei Kinder, fünf Enkel, acht Urenkel. Fast alle leben rund um Dresden. Zu weit weg für Spontanbesuche. Wofür sie sich interessieren, was sie in ihrer Freizeit machen, wie sich die Welt heute dreht, will sie trotzdem wissen. Also geht sie dorthin, wo die Jüngeren zu finden sind. Im Görlitzer Jugendkulturzentrum Basta gehört sie zu den Stammgästen, im Pub ebenso, bei Ausstellungseröffnungen ist Oma Gisela meistens mit dabei, fürs Blutspenden engagiert sie sich – und für die Politik. Bei Demos sieht man sie ab und an – immer auf der Seite der Linken.

Angefangen hatte alles mit einem ihrer Enkel. „Das war in den 80er-Jahren, mein Enkel war ungefähr 14.“ Und er hörte Techno-Musik. Eines Tages ließ er die Oma mithören. „Ich saß da in seinem Kinderzimmer und wir wippten so zum Takt der Musik mit“, erzählt Gisela Pfenniger. Ihr Mann konnte sich für diese Musikrichtung weniger begeistern, dafür aber fürs Zelten. „Wir waren beide große Fans des Zeltens. Wir haben die ganze DDR mit dem Fahrrad oder dem Motorrad und unserem Zelt erkundet.“ Jahrelang machten die beiden Zelturlaub in Biehain bei Niesky. 2001 starb Wolfgang Pfenniger. 50 Jahre lang waren die beiden verheiratet gewesen. Man lässt nicht einfach zurück, was so lange zum Leben gehört hat. Gisela Pfenniger ging weiter zelten, alleine, aber nicht nach Biehain. „Dort gibt es zu viele Erinnerungen.“ Sie schlug ihr Iglu am Freibad Hagenwerder südlich von Görlitz auf. Aber mit der Ruhe war es dort vorbei. Die Macher des Festivals House of Summer hatten das Freibad mit seiner Kraftwerks-Kulisse in Beschlag genommen. „An einem Nachmittag war ich dort baden, da hatten die schon angefangen, Musik zu machen“, erinnert sich Gisela. „Mir hat das gefallen. Ich bin dann am nächsten Tag noch mal hin.“ Und dann immer wieder. Aus dem Festival House of Summer wurde das La Pampa, aus dem La Pampa das Moxxom. Gisela Pfenniger war immer mit dabei. Irgendjemand gab ihr schließlich den Spitznamen Techno-Oma. „Heute tanzt Oma Gisela nicht mehr“, erzählt Danilo Kuscher. Er war damals Mitorganisator des Moxxom-Festivals. „Aber vor ein paar Jahren beim Festival hat sie auch getanzt.“ In der einen Hand ein Bierglas, in der anderen eine Zigarette. Gegen Mitternacht schlüpfte sie zum Schlafen dann immer in ihr Iglu-Zelt. Die Festivals gibt es heute nicht mehr, das Bad auch nicht mehr. „Mir fehlt das wirklich sehr“, sagt Gisela Pfenniger.

Das ist die eine Gisela, Techno-Oma, die Frau, die noch einen Termin-Kalender braucht, um nichts zu verpassen. Es gibt eine andere Gisela. Die Gisela, die in ihrer Wohnung steht und sich nicht in den Keller traut. Der ganze Körper ein pochendes Herz. Die Gisela, die das Geräusch von Staubsaugern nicht erträgt. Die Gisela, die sich vor Hubschraubern fürchtet. „Dabei sind damals gar keine Hubschrauber geflogen. Aber das Geräusch macht mich fertig.“

Damals, sie meint 1945, den 13. Februar. „Ursprünglich komme ich aus Dresden. Wir haben in der Kaitzer Straße, direkt hinterm Hauptbahnhof, gewohnt.“ Bei der ersten Angriffswelle der alliierten Bomber auf Dresden hatte die Familie noch Glück, das Haus war nicht getroffen worden. „Allerdings das Haus gegenüber. Wir haben gesehen, wie die Bewohner dort versuchten, die Brandbomben vom Dach runterzuwerfen.“ Sie sah, wie das Haus schließlich einstürzte, wie die Menschen darunter begraben wurden. Dann kam der zweite Angriff. „Wir hatten ein kleines selbst gebautes Radio, und mein Opa kannte sich mit den Geländezahlen aus.“ Dadurch wusste die Familie, dass Bomber in ihre Richtung flogen. Ihre Schwester und sie lagen im Bett, als es hieß: Schnell in den Keller. „Dort unten hörten wir die Bomben näherkommen. Wumm, Wumm, Wumm.“ Sie hat die Geschichte schon so oft erzählt. Aber die Geschichte ist nie Routine geworden. Diese Minuten scheint sie im Kopf zu haben, als wäre es gestern gewesen.

„Da war die Treppe, die führte zu einer Kellerwohnung.“ Dorthin flüchteten sich die Bewohner des Hauses, elf Leute, darunter Gisela, ihre Schwester, ihr Bruder im Kinderwagen, ihre Eltern. Schließlich wurde das Haus getroffen. „Wir mussten also wieder raus.“ Die Bewohner kletterten durch das Fenster der Kellerwohnung ins Freie. „Mein Vater rannte in die Waschküche, die war auch im Kellergeschoss. Er weichte eine Decke im Wasser ein.“ Diese Decke warf er über den Kinderwagen, in dem Giselas kleiner Bruder lag. „Wir mussten also irgendwie diesen Kinderwagen durch das Kellerfenster bekommen“. Der Vater stieg zuerst raus, er zog den Kinderwagen von außen, Gisela schob. „Der Feuersturm da draußen, das kann man nicht beschreiben“, erinnert sie sich. „Die nasse Decke flog sofort weg wie ein trockenes Stück Papier.“ Dann wollte sie hinterherklettern. „Ich weiß noch, ich hatte das eine Bein schon auf dem Stuhl, um nach oben durchs Fenster zu steigen.“ In dem Moment brach das Haus über ihr ein. Was dann passierte, ist Nebel. „Sie haben mich wohl aus den Trümmern gezogen.“ Die ganze rechte Seite der Jugendlichen war verletzt. „Ich habe das kaum mitbekommen. Gesehen hat man ohnehin nichts, weil wir alle schwarz vor Ruß waren. Mir tat der ganze Körper weh.“ Die Familie zog durch Dresdens Straßen, auf dem Weg zu einem Auffanglager. Aus einem der Häuser rannte plötzlich, so erzählt Gisela, ein Soldat auf sie zu, riss an ihrer Hose, zerschnitt sie. „Ich habe das nicht verstanden. Ich bin richtig giftig geworden. Da kam dieser Soldat angerannt und zerschnitt meine schöne, neue Skihose.“ Erst später verstand sie, dass sie in Phosphor getreten war und ihr Bein zu brennen begonnen hatte. Egal, alles war egal, alles tat weh.

Der Krieg war vorbei, beeinflusste ihr Leben aber trotzdem weiter. Die Familie zog erst nach Berggießhübel, dann zurück nach Dresden, nach Hellerau. Verschiedene Schulen, unterschiedlicher Lehrstoff. „Eigentlich wollte ich Abitur machen und hätte dann gerne Mathe und Physik studiert“, erzählt Gisela. Aber sie ging vorzeitig von der Schule ab. „Später wurden dann Lehrgänge angeboten, um FDJ-Sportleiter auszubilden.“ Sport, das war immer ihr Ding. Sie machte den Lehrgang mit, alles lief gut – bis zum medizinischen Test. Kaputtes Herz, kaputter Traum. „Mir wurde geraten, ich solle es doch als Pionierleiter versuchen.“ Da klappte. Jahrelang baute Gisela Pfenniger Ferienlager in und um Dresden auf. „Im Grunde hatte ich also schon immer mit jüngeren Menschen zu tun“, sagt sie. 1950 heiratete sie ihren Mann. Mit ihm und ihren Kindern ging sie später nach Dobra. Wolfgang Pfenniger, eigentlich Tischler und Flugzeugbauer, war dort als Bürgermeister eingesetzt worden. „Das war die Zeit, als ein Bürgermeister für mehrere Orte eingesetzt war“, erinnert sich Gisela. Das hieß Stress, zu viel für Wolfgang Pfennigers Gesundheit. Er gab das Bürgermeisteramt auf und ging nach Hagenwerder – im Kraftwerk wurden Tischler gesucht. Gisela Pfennigers Weg in die Oberlausitz.

Wie ihr Mann arbeitete auch sie im Kraftwerk, zunächst als Helferin im Labor. „Für das Labor mussten oft Dinge aus dem Keller geholt werden. Manchmal war das auch damals für mich nicht möglich.“ Wenn es ihr heute so geht, bleibt Gisela lieber in ihrem Sessel sitzen und strickt noch eine Runde. Ihr Ersatz für die Physiotherapie. Das hält die rechte Hand beweglich. Regelmäßig taucht Oma Gisela im Basta mit selbst gestrickten Mützen und Pulswärmern auf, die sie verschenkt oder verkauft. „Das Autofahren habe ich jetzt auch aufgegeben“, erzählt sie. Im August vergangenen Jahres saß sie das letzte Mal am Steuer. „Ich bin aus der Garage rausgefahren und habe gleich gemerkt: Da stimmt was nicht.“ Das Bein wollte nicht mehr tun, was es sollte, das rechte. „Die Fleppen habe ich zwar noch, aber das Auto ist verkauft.“ Aber es gibt noch so viele Dinge, die Spaß machen. Also fährt Oma Gisela jetzt eben Straßenbahn. Und wenn im Kühlhaus eine Veranstaltung ist, holen Danilo Kuscher oder seine Kollegen sie ohnehin ab. „Das hat auch Vorteile. Wenn ich nicht mehr fahren muss, kann ich ein Murphys trinken.“ Wenn also nachts halb zwölf die letzte Bahn Richtung Weinhübel vom Demianiplatz abfährt und eine ältere Dame mit weißem Haar an der Haltestelle steht – dann ist es Oma Gisela.

Auf der Getränkekarte im Kings Pub in Görlitz steht ein Zitat von Oscar Wilde: Versuchungen sollte man nachgeben. Man weiß nie, ob sie wiederkommen. Es könnte Gisela Pfennigers Lebensmotto sein. Für sie hat sich aber eher ein anderer Spruch bewährt: Neugierde hält jung. „Das ist wirklich so. Wenn man neugierig ist, rappelt man sich eben doch aus dem Sessel hoch.“ Man rappelt sich hoch und packt die Strickmützen ein. Man packt den Kamm in die Tasche, man entscheidet: T-Shirt, grüne oder goldfarbene Bluse, Lippenstift oder kein Lippenstift? Und dann geht man feiern.

››› Zum Themenspezial „Was geht, Alter?!“
››› Mitmachen und gewinnen - SZ-Umfrage: Mitten im Leben?