Von Friederike Hohmann
Eigentlich will sie Ulrich S. gar nicht verurteilen. Das gibt die Richterin gleich zu Beginn des zweiten Verhandlungstages zu verstehen. Aber nur unter einer Bedingung.
Ein komplizierter Fall vor dem Amtsgericht in Pirna, der noch für viele Fragen sorgen sollte. Begonnen hatte er im Januar letzten Jahres. Bei einer Routinekontrolle der Bundespolizei an der Autobahn 17 war damals ein tschechisches Taxi kontrolliert worden, in dem Ulrich S. saß. Bei dem heute 56-Jährigen fanden die Beamten neben einer geringen Menge Crystal insgesamt 5.621 Euro in bar und Briefmarken im Wert von 225 Euro.
Alles wurde beschlagnahmt. Ulrich S. kam direkt ins Gefängnis, denn beim Abgleich seiner Personalien stellte sich heraus, dass man dort schon seit einem halben Jahr auf ihn wartete. Dem Haftantritt hatte er sich im Sommer 2019 durch Flucht entzogen. Erst 2017 war er nach mehrjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden.
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass das bei S. gefundene Bargeld aus einer oder mehreren Straftaten stammt. Am ersten Verhandlungstag in Pirna hatte der Angeklagte versucht, darzulegen, woher die mehr als 5.000 Euro stammten. Denn für einen Mann, der nur ALG II bezieht, ist das ein überraschend hoher Betrag.
S. erklärte vor Gericht, dass er in der DDR als Jugendlicher in ein Heim eingewiesen wurde. Bund und ostdeutsche Länder richteten 2012 den sogenannten Fonds „Heimerziehung in der DDR“ ein, um die Betroffenen wegen des erlittenen Unrechts finanziell zu entschädigen. Als Ausgleich dafür, dass die Kinder und Jugendlichen durch die Einweisung massive Beeinträchtigungen der Lebenschancen und Entwicklungspotenziale erlebten, die bis heute nachwirken.
Rätsel um Tausende Euro Bargeld
Ulrich S. hatte einen solchen
Antrag auf Entschädigungszahlungen gestellt und daraufhin insgesamt 16.700 Euro Unterstützung erhalten. Einen Teil davon bekam er als Rentenersatzleistung, was darauf hinweist, dass er wohl in einem der berüchtigten Jugendwerkhöfe arbeiten
musste, ohne dass dafür Rentenbeiträge abgeführt wurden. Bei seiner
letzten Haftentlassung 2017 hätte der 56-Jährige noch etwa 6.000 Euro auf dem Konto gehabt. Das bei ihm gefundene Geld und die Briefmarken stammten aus den Zahlungen aus dem Fonds, behauptete er.
Richterin Simona Wiedmer nahm ihm das jedoch nicht ab. Sie ermittelte und fand heraus, dass Ulrich S. bei seiner Haftentlassung 2017 lediglich über das Entlassungsgeld von 585 Euro verfügte und dann von ALG II lebte. Die Herkunft des vielen Geldes und der Briefmarken konnte er also nicht erklären. Deshalb versucht die Richterin, ihn davon zu überzeugen, auf das beschlagnahmte Geld und die Briefmarken freiwillig zu verzichten. Dann würde sie das Verfahren einstellen. Andernfalls müsse sie ihn wegen Drogenbesitzes zu einer weiteren Haftstrafe verurteilen.
Übersicht über Haftzeit verloren
Welche Haftstrafe er gerade absitzt? Ulrich S. weiß es nicht genau. Er kramt in seinen Unterlagen, weil er die Übersicht über die vielen Monate, die er noch absitzen muss, verloren hat. In der Regel beginnt nach zwei Dritteln abgesessener Haftstrafe, die nächste zu zählen. „Sie sind nicht mehr der Jüngste. Für Sie zählt doch jeder Monat“, versucht die Richterin den Angeklagten zu überzeugen. Ulrich S. tut sich schwer, auf das Geld zu verzichten, stimmt aber schließlich zu. Auch die Staatsanwaltschaft ist mit der Einstellung des Verfahrens einverstanden.
Ulrich S. werden wieder die Handschellen angelegt, bevor er zurück ins Gefängnis gebracht wird. Wie lange er dort bleiben muss, ist wegen eines noch ausstehenden Berufungsurteils, bei dem es um eine Haftstrafe von drei Jahren und zwei Monaten geht, derzeit offen.
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