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Wie eine Wandzeitung aus Pirna in der DDR zum Skandal wurde

Zwei Pirnaer zeigten 1983 Bilder des Verfalls, aus Sicht der DDR-Oberen eine Provokation. Nun sind sie im Museum wieder zu sehen – in einem neuen Kontext.

Von Thomas Möckel
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Museumschef René Misterek (l.), Hans-Jürgen Rochlitzer: "Es war nur eine leise Kritik am Verfall der Altstadt."
Museumschef René Misterek (l.), Hans-Jürgen Rochlitzer: "Es war nur eine leise Kritik am Verfall der Altstadt." © Thomas Möckel

Dass einmal eine Sperrholzplatte, etwa anderthalb mal einen Meter groß, beklebt mit Fotos und einigen Texten, einmal zu einem derartigen Skandal hochstilisiert würde, ahnte Hans-Jürgen Rochlitzer nicht einmal ansatzweise, als er die Idee dazu hatte. Rochlitzer, geboren 1947, ist ein Ur-Pirnaer, er wohnt schon immer auf der Gartenstraße in der Innenstadt. Anfang der 1960er-Jahre trug er als Jugendlicher Post aus, um sich etwas dazuzuverdienen, meist war er in der Altstadt unterwegs. „Zu dieser Zeit“, sagt er, „war ein Großteil der Häuser noch bewohnt.“

Doch die DDR hatte generell wenig Interesse an der historischen Bausubstanz, statt sie zu erhalten, gab es lieber neue Plattenbauten auf der grünen Wiese. In den Folgejahren verfiel der von einmaliger Architektur geprägte Stadtkern zusehends, Rochlitzer sah, wie die Dächer kaputtgingen, wie es überall hereinregnete, wie immer mehr Gebäude unbewohnbar wurden, er sah, dass niemand etwas dagegen tat. Ende der 1980er-Jahre war nur noch ein Bruchteil der Altstadt-Häuser bewohnt.

Rochlitzer und sein Freund Wolf-Dieter Grünelt beschlossen, gegen den zunehmenden morbiden Charme aufzubegehren, in kleiner, stiller Form, aber immerhin etwas. Ein Anlass war Ende 1982 gefunden, es war ein ziemlich bedeutender in der Stadtgeschichte. 1983 blickte Pirna auf sein 750-jähriges Bestehen zurück, eigentlich ein Grund zum Feiern, aber der schleichende Niedergang der Altstadt war schon unübersehbar. „Das tat schon weh“, sagt Rochlitzer. Er und Grünelt beschlossen, etwas dagegen zu tun, auf ungewöhnliche Weise Kritik zu üben – der Beginn einer irrwitzigen Geschichte, die die beiden beinahe ihren Arbeitsplatz kostete.

"Eine gezielte politische Provokation"

Die Idee war geboren, eine Wandzeitung zu gestalten, Arbeitstitel „750 Jahre Pirna – Licht und Schatten in unserer Stadt“, Grünelt war der Fotograf. Beide gingen auf Pirsch in der Altstadt, fotografierten Lichtblicke und Schattenseiten, sehr gleichberechtigt, damit keine Seite überwog. „Es gab ja auch genügend Lichtblicke, nicht nur Ruinen“, sagt Rochlitzer. Am 7. Juni vollendeten sie ihr Werk, klebten Bilder und Texte auf die Sperrholzplatte, sie arbeiteten bis Mitternacht an dem Fotoaushang.

Am 8. Juni 1983, ein Mittwoch, nahmen Grünelt und Rochlitzer die fertige Wandzeitung zur ersten Schicht mit in den Betrieb, der VEB Fahrzeugelektrik Pirna“, gegen 5.15 Uhr brachten sie ihr Ergebnis an der sogenannten Informationstafel an. Ab 6.30 Uhr fand der lichtbildnerisch gestaltete Aushang reges Interesse, die Wandzeitung war dicht umringt, etwa 150 Mitarbeiter aus allen Bereichen schauten sie sich an. Die Resonanz: viel Lob. Doch die Freude währte nur kurz.

Gegen 8 Uhr wurden Grünelt und Rochlitzer aufgefordert, die Wandzeitung abzuhängen, der Aufforderung kamen sie auch nach. Ihr künstlerisches Werk wurde sodann vom Sicherheitsinspektor und der Betriebsleitung sichergestellt und zunächst bei der Parteileitung deponiert. Irgendwann zwischen 10 und 11 Uhr brachte der Parteisekretär des Betriebes die Wandzeitung zur SED-Kreisleitung. Kurz darauf mussten die Wandzeitungsmacher zu einer Aussprache mit dem stellvertretenden Werksleiter, dem Sicherheitsinspektor und anderen antreten. Ein Mitarbeiter der SED-Kreisleitung warf den beiden vor, die Wandzeitung sei eine gezielte und gewollte politische Provokation. Dabei war es nur eine leise Kritik am städtebaulichen Zustand der Altstadt. Seither blieb die Wandzeitung verschwunden, sie tauchte nie wieder auf.

Haus Dohnaische Straße/Ecke Schuhgasse 1983 ...
Haus Dohnaische Straße/Ecke Schuhgasse 1983 ... © Wolf-Dieter Grünelt
... und Haus Dohnaische Straße/Ecke Schuhgasse 2023.
... und Haus Dohnaische Straße/Ecke Schuhgasse 2023. © Hans-Jürgen Rochlitzer
Hinterhaus-Idylle an der Dohnaischen Straße anno 1983 ...
Hinterhaus-Idylle an der Dohnaischen Straße anno 1983 ... © Wolf-Dieter Grünelt
... und der Hinterhof an der Dohnaischen Straße 2023.
... und der Hinterhof an der Dohnaischen Straße 2023. © Hans-Jürgen Rochlitzer
Das ehemalige Kreiskulturhaus an der Gerichtsstraße 1983 ...
Das ehemalige Kreiskulturhaus an der Gerichtsstraße 1983 ... © Wolf-Dieter Grünelt
... und das Gebäude in der Gerichtsstraße 2023.
... und das Gebäude in der Gerichtsstraße 2023. © Hans-Jürgen Rochlitzer

Fotos haben als Negative überlebt

Etwas davon hat allerdings überlebt. Grünelt, der schon vor einigen Jahren starb, hatte seinerzeit fotografiert, analog versteht sich, und die Negative der Fotos sorgsam aufbewahrt. „Somit waren die Bilder gesichert“, sagt Rochlitzer, was ihn auf eine Idee brachte. 2023, 40 Jahre nach der Kurzzeit-Wandzeitungspremiere, fotografierte er die 24 Motive der Wandzeitung vom gleichen Standort noch einmal, um die vielen positiven Veränderungen aufzuzeigen. Und das ist jetzt öffentlich zu sehen.

Rochlitzers fotografische Neuauflage mündete in der kleinen, feinen Sonderausstellung mit dem Titel „Pirnaer Stadtfestjahr 1983 – eine Wandzeitung provoziert“, die das Stadtmuseum derzeit zeigt. Dort sind nun die Fotos von damals denen von heute gegenübergestellt, daneben finden sich die originalen Bildtexte, die Grünelt und Rochlitzer damals für die Wandzeitung anfertigten. „Das Thema noch einmal neu aufzugreifen, hat sich gut angefühlt“, sagt Rochlitzer.

Die Besucher honorieren das ungemein, die Resonanz ist groß. „Das Interesse ist sehr stark, weil diese kleine, aber starke Ausstellung ein Stück DDR-Alltag zeigt“, sagt Museumschef René Misterek. Was die Schau so besonders mache, ist, dass sie so authentisch sei. Rochlitzer hat die Vorgänge damals akribisch notiert und Tagebuch geführt, damit nichts davon vergessen wird, ein Teil dieser Aufzeichnungen sind ebenfalls in der Schau zu sehen. „Das macht sie auch dokumentarisch so wertvoll“, sagt Misterek.

Kündigen? Denkste!

Im Nachgang der Wandzeitungs-Aktion gab es 1983 weitere Aussprachen, sogar mit dem damaligen Bürgermeister, auch mit dem Werksleiter, die Wandzeitung wurde stets als Provokation bezeichnet, die angeblich Tausende Pirnaer empört habe – obwohl sie nur reichlich 100 Menschen gesehen hatten. In Rochlitzers Stasi-Akte findet sich sogar ein Vermerk über die Angelegenheit.

Zudem drohten arbeitsrechtliche Konsequenzen, die der Betrieb geschickt offerierte. Die Fahrzeugelektrik wollte den beiden nicht kündigen, stellte ihnen aber frei, selbst sofort fristlos zu kündigen. „Das haben wir natürlich nicht gemacht“, sagt Rochlitzer. Er arbeitete als Instandhalter im Betrieb, sein Geschick war gefragt, fachlich konnte man ihm nichts anhängen. Letztendlich blieb Rochlitzer 41 Jahre im Betrieb – bis zur Rente. Bereits kurz nach dem Mauerfall bekam er einen Brief aus der Chefetage. Darin hat sich die Betriebsleitung bei Rochlitzer für ihr Verhalten während der Wandzeitungsaffäre entschuldigt.

Ausstellung "Pirnaer Stadtfestjahr 1983 - Eine Wandzeitung provoziert", Stadtmuseum Pirna, Klosterhof 2, zu sehen bis 19. November 2023, geöffnet dienstags bis sonntags sowie feiertags jeweils von 10 bis 17 Uhr, Eintritt Museum sechs, ermäßigt vier Euro