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Als der Krieg fast zu Ende war

Nach Böhmen kam der Weltkrieg erst in den letzten Tagen, dafür umso blutiger. Sowohl die Amerikaner als auch die Russen bombardierten Städte.

Von Steffen Neumann
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Ein tschechoslowakischer Offizier posiert im Mai 1945 mit seiner Freundin in Decin (Tetschen) vor einem Jagdpanzer der Wehrmacht.
Ein tschechoslowakischer Offizier posiert im Mai 1945 mit seiner Freundin in Decin (Tetschen) vor einem Jagdpanzer der Wehrmacht. © Staatliches Kreisarchiv Decín

Als Anfang Mai 1945 der Zweite Weltkrieg kurz vor seinem Ende stand, trat er auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik in seine blutigste Phase. Bis dahin war das von Deutschland besetzte Protektorat Böhmen und Mähren von Kampfhandlungen fast verschont geblieben. Und es war noch fest in deutscher Hand. Anders als im Deutschen Reich, das fast komplett von den Alliierten besetzt war, herrschten im Protektorat noch die deutschen Besatzer.

„Bis April 1945 gab es immer wieder Bombenangriffe. Am schlimmsten traf es Ústí nad Labem (Aussig), das am 17. und 19. April von amerikanischen Fliegern angegriffen wurde“, sagt der Historiker und Stadtarchivar von Ústí, Petr Karlíček. Ziel war die Zerstörung des Eisenbahnknotens. Doch der Bahnverkehr war am Ende weniger betroffen, auch das riesige Chemiewerk blieb verschont. Dafür starben Hunderte Menschen und die Innenstadt wurde fast völlig zerstört, was bis heute nachwirkt.

Britische und amerikanische Bomber flogen vorher auch Angriffe auf strategisch wichtige Standorte der Rüstungsindustrie wie die Škoda-Werke in Plzeň (Pilsen) und das Hydrierwerk in Litvínov (Oberleutensdorf). Doch die Zivilbevölkerung blieb vom heißen Krieg größtenteils verschont. Die Nationalsozialisten hatten das früh erkannt und kriegswichtige Produktion in ihr Protektorat Böhmen-Mähren verlegt. Dafür wurden eigens unterirdische Fabriken gebaut, wo Zehntausende Insassen von Konzentrationslagern unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten mussten und nicht selten ihr Leben ließen.

Noch am 8. Mai flog die Rote Armee Luftangriffe auf Decin.
Noch am 8. Mai flog die Rote Armee Luftangriffe auf Decin. © Staatliches Kreisarchiv Decín

Erst im März 1945 erreichte die Rote Armee bei Ostrava tschechisches Gebiet. Von Westen stießen im April die Amerikaner nach Westböhmen vor. Und am 5. Mai brach in Prag und weiteren Städten der Aufstand aus. In den Grenzgebieten lebten dagegen überwiegend Deutsche, die bei der Angliederung an das Deutsche Reich 1938 die Wehrmacht als Befreier gefeiert hatten. „Die anrückende Rote Armee löste bei den meisten Menschen eher Angst als Hoffnung aus“, sagt Historiker Karlíček. Die Rote Armee stieß unter Marschall Konew von Dresden kommend über das Erzgebirge nach Böhmen vor. Von Osten drang die Zweite Polnische Armee in den Schluckenauer Zipfel. „Die Einwohner wehrten sich nicht, sondern hissten weiße Fahnen“, sagt Karlíček. SS-Einheiten leisteten aber teils erbitterten Widerstand. So kam es zum Beispiel zu blutigen Gefechten bei Lobendava (Lobendau) und Rumburk (Rumburg).

Andererseits, so Karlíček, führten die Menschen noch bis kurz vor Kriegsende ein beinahe normales Leben. „Die Menschen gingen zur Arbeit, die Kinder in die Schule. Noch am 8. Mai erschien in Liberec (Reichenberg) die Zeitung „Die Zeit“ mit einem flammenden Appell zur Verteidigung der Heimat des Reichsstatthalters Konrad Heinlein, der sich sogleich Richtung Westen in amerikanische Kriegsgefangenschaft absetzte“, so Karlíček. 

Das Kriegsende war in Nordböhmen geprägt von großen Menschenbewegungen. „Auf dem Gebiet des Sudetengaus befanden sich Hunderttausende Zwangsarbeiter ganz unterschiedlicher Herkunft. Dazu kamen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten und aus Sachsen“, so der Historiker. All diese Menschen gerieten in den letzten Kriegstagen zwischen die Fronten. Die meisten Opfer forderten aber die grausamen Todesmärsche, auf welche die Nationalsozialisten die Insassen der Konzentrationslager in den letzten Kriegswochen getrieben hatten.

Als die Waffen offiziell endlich schwiegen, fielen aus heiterem Himmel plötzlich noch einmal Bomben. Am 8. und 9. Mai ließ die Luftwaffe der Roten Armee Städte in Böhmen und Mähren bombardieren. Die Angriffe forderten allein in Nordböhmen über 500 Opfer, in ganz Tschechien weit über 1.000. „Darunter waren größtenteils Deutsche, aber paradoxerweise auch russische Zwangsarbeiter“, sagt Historiker Karlíček. Am schwersten war Děčín (Tetschen) betroffen. „Am Tag der Kapitulation wurde das historische Stadtzentrum zerstört.“

Lange war nicht bekannt, wer dahinter steckte, denn die Flieger hatten keine Hoheitszeichen. „Erst über 70 Jahre später nach teilweiser Öffnung der russischen Archive kam die Wahrheit ans Licht“, sagt Karlíček. Marschall Konew, der am 9. Mai in Prag einmarschierte, hatte die Schläge selbst angeordnet. Warum, ist nicht restlos aufgeklärt. Am wahrscheinlichsten ist der Grund, die Wehrmacht zu hindern, ins von den Amerikanern besetzte Westböhmen vorzudringen, um nicht in sowjetische Kriegsgefangenschaft zu fallen. Die Opfer aber waren Zivilisten. An einer Aufklärung der Luftschläge gab es in der Tschechoslowakei kein Interesse, da die meisten Opfer Deutsche waren, die ohnehin bald vertrieben werden sollten. Für sie begann das Leiden erst mit dem 8. Mai.

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