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Als der Schlamm nach Geising kam

Vor 50 Jahren ereignete sich ein Bergbau-Unglück, das sich fest in das Gedächtnis der Geisinger gebrannt hat.

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© Alois Ulbig, Sammlung Stefan Müller

Von Maik Brückner

Geising. Land unter in Geising. So könnte man die Szenen beschreiben, die sich vor genau 50 Jahren in der Kleinstadt abspielten. Auch das Haus, in dem Ulrike und Heinz-Jörg Auerswald wohnen, versank im Schlamm. „Bis hierhin stand die Brühe“, erzählt die 73-Jährige. Sie hatte das Unglück selbst nicht erlebt, weil sie damals in Berlin studierte und sich auf Prüfungen vorbereitet hatte. Auch ihre Eltern waren nicht da, als es passierte. „Sie hatten meine Großmutter zum Zug nach Dresden gebracht.“

Blick aus Richtung Altenberg auf den Ortseingang von Geising.
Blick aus Richtung Altenberg auf den Ortseingang von Geising. © Alois Ulbig, Sammlung Stefan Müller
Mit der Hand zeigt Ulrike Auerswald, wie hoch die Schlammbrühe am 9. Oktober 1966, also vor genau 50 Jahren, an ihrem Haus stand. Ihr Mann Heinz-Jörg Auerswald kam erst ein Jahr später nach Geising. Die Spuren der Verwüstung waren da immer noch sichtbar.
Mit der Hand zeigt Ulrike Auerswald, wie hoch die Schlammbrühe am 9. Oktober 1966, also vor genau 50 Jahren, an ihrem Haus stand. Ihr Mann Heinz-Jörg Auerswald kam erst ein Jahr später nach Geising. Die Spuren der Verwüstung waren da immer noch sichtbar. © Egbert Kamprath

Als ihre Eltern nach Hause fahren wollten, wurden sie in Lauenstein gestoppt. Die Talstraße nach Geising war gesperrt. „Meine Eltern fuhren über Liebenau und Löwenhain nach Geising. Da das Gebiet um ihr Haus gesperrt war, mussten sie sich bei einem befreundeten Ehepaar einquartieren. Erst nach drei Tagen durfte Ulrike Auerswalds Vater sein Haus betreten. Mit Gummistiefeln. Denn das Wasser stand immer noch kniehoch auf dem Grundstück.

So oder so ähnlich haben es viele Geisinger erlebt. Denn der gesamten Bahnhofsbereich, Teile der Altenberger, der Dresdner Straße und der Hauptstraße waren betroffen. Was war geschehen?

Oberhalb von Geising wurde in den vorangegangenen 30 Jahren vom Altenberger Bergbau eine Halde aufgeschüttet, die Tiefenbachhalde. Zuvor wurden die beiden dort laufenden Bäche, der Tiefenbach und das Schwarzwasser, vertunnelt, dazu wurden Kanäle gebaut. Am Zusammenfluss der Bäche wurde eine Wölbschleuse errichtet, die sich nach der Aufschüttung unter der Halde befand. Die Schleuse brach am 9. Oktober 1966. Der aufgeschüttete Sand drang in den Kanal und wurde vom Tiefenbach ins Tal gespült. Nach dem Bruch bildete sich auf dem Haldenkörper ein Krater mit einem Durchmesser von 80 Metern, erzählt Heinz Bernhardt, der den Altenberger Bergbau erforscht hat. Am Ende waren es 200 000 Kubikmeter Schlamm und Sand, die nach Geising abgeflossen sind.

Wie verheerend es in Geising nach dem Bruch der Schleuse aussah, hat der Altenberger Alois Ulbig anschaulich in Farbfotos dokumentiert. Ulbig war zu jener Zeit für die Bäuerliche Handelsgesellschaft (BHG) Altenberg als Lastwagenfahrer tätig. Eigentlich transportierte er Kohle. Doch an diesem Tag wurde er nach Geising geschickt, um Schlamm abzufahren. „Ich erfuhr von diesem Unglück relativ schnell, denn ich sollte mich umgehend mit dem Lkw auf den Weg zum Bahnhof Geising begeben, um dort Schlamm abzufahren“, erzählte Ulbig später dem Schlottwitzer Eisenbahnforscher Stefan Müller.

„Überhaupt bis Geising zu kommen, war sehr schwierig, schließlich war die direkte Verbindung zwischen Geising und Altenberg durch die Schlammmassen unpassierbar geworden. Also musste ich einen Umweg fahren, um talseitig nach Geising einfahren zu können. Hier angekommen, sah ich, wie der Bahnhof Geising unter einer einen Meter dicken Schlamm- und Geröllschicht vergraben war. Da ich mit meinem Lkw noch warten musste, bis ich ihn zur Schlammabfuhr bereitstellen konnte, habe ich mir meinen Fotoapparat geschnappt, der zum Glück immer in meinem Lkw lag, um einige Fotos anzufertigen, was allerdings nicht ohne Vorsicht geschehen konnte, schließlich war überall die Volkspolizei im Einsatz.“ Auch die Feuerwehr war Tag und Nacht vor Ort. Über 200 Geisinger packten an, um den teilweise knietiefen Schlamm zu beseitigen, erinnert sich Bergbauforscher Heinz Bernhardt. Unterstützt wurden die Geisinger von anderen Feuerwehren, der Armee, der Polizei, der Grubenwehr, der Wismut und von Fuhrunternehmern.

Auch auf der Halde wurde gearbeitet, um die Schlammausbrüche zum Stillstand zu bringen. „Bis zum 14. Oktober wurden zuerst mit Hubschraubern, deren Einsatz witterungsbedingt eingestellt werden musste, dann mit einer schnell errichteten Kabelkrananlage 56 Stahlroste mit Sandsäcken und Reisig, 30 große Reisig- und Rutenbündel und 4 000 gebündelte Sandsäcke in den Trichter gebracht, um ihn zu verdämmen“, berichtet Bernhardt. Der Bruch der Schleuse wurde später juristische aufgearbeitet. „Direkte Kosequenzen hatte das Unglück beim Zinnerz Altenberg nicht“, sagt Bernhardt. Allerdings gab es später Umbesetzungen in der Führungsriege.

In Geising selbst ist nach 50 Jahren vom Unglück nichts mehr zu sehen. Nur ab und zu finden die Leute beim Umgraben des Gartens rote Klumpen. Dann erinnern sie sich an jenen Tag im Oktober 1966, als die rote Brühe ins Städtchen floss.