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Als die Hongkong-Grippe in die DDR kam

Zwischen 1968 und 70 starben Millionen Menschen an der Hongkong- Grippe. In der DDR wurde ein Plan gegen einen bakteriologischen Krieg entwickelt.

Von Peter Ufer
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Moskau 1969: In einem Hotel bedienen Kellnerinnen mit Mundschutz als Vorsorge gegen die Befürchtung einer Ausbreitung der Hongkong-Grippe.
Moskau 1969: In einem Hotel bedienen Kellnerinnen mit Mundschutz als Vorsorge gegen die Befürchtung einer Ausbreitung der Hongkong-Grippe. © ddp/United Archives

Eva Schmerbach bekam plötzlich 40 Grad Fieber und heftigen Schüttelfrost. Dann brach sie zusammen. „Mein Mann rief die Schnelle Medizinische Hilfe, und der Notarzt fuhr mich in die Infektionsabteilung der Medizinischen Akademie“, erzählt die Dresdnerin. Die 83-Jährige sieht in ihrem Ausweis der DDR-Sozialversicherung nach, um sich genau zu erinnern: „Vom 19. März bis zum 22. April 1970 lag ich im Krankenhaus. Ich hatte eine schwere Lungenentzündung, und der Arzt meinte damals, dass dies die Folge der Hongkong-Grippe sei.“

Eva Schmerbach reagiert mit ihrer Geschichte auf den Aufruf in der Sächsischen Zeitung, sich an die Virus-Infektion von vor 50 Jahren zu erinnern. Zwölf Familien haben sich insgesamt in der Redaktion gemeldet. Die Dresdner Journalistin Heidrun Hannusch berichtet, dass sie 1970 als 15-Jährige an der Hongkong-Grippe schwer erkrankt gewesen und ihr Onkel daran gestorben sei.

SZ-Leser Jürgen Heidrich schreibt: „Meine Frau und ich sind Ende 1968 von der Hongkong-Grippe betroffen gewesen, obwohl diese damals nur einfach Grippe hieß. Ich war im Herbst für 14 Tage zu einer Messe in Moskau, wo ich mir den Virus eingefangen habe. Hohes Fieber und starke Gliederschmerzen waren die Auswirkungen. Meine Frau traf es einige Zeit später. Nach einer Woche war alles vorbei.“

Essen vor die Tür gestellt

Auch Manina Dageför und ihre Familie haben 1969 an der Krankheit gelitten. Das berichtet die 66-jährige Dresdnerin, die als Kind vor 51 Jahren in Bautzen lebte. „Ich musste mit ansehen, wie kurz vor Ostern meine Schwester, meine Eltern und meine Großmutter hohes Fieber bekamen und immer schwächer wurden“, sagt sie. Am Ostersonntag sei ihre Großmutter im Alter von 67 Jahren gestorben. Auf dem Totenschein habe als Ursache Herzversagen gestanden. „Als meine Mutter später zur Kur nach Bad Frankenhausen fuhr, rief sie nach der Eingangsuntersuchung zu Hause an und sagte: Stell dir vor, was in meiner Krankenakte steht, unsere ganze Familie war an der Hongkong-Grippe erkrankt.“

Manina Dageför erinnert sich deshalb so genau, weil sie als 15-Jährige die Familie versorgen musste. „Mitarbeiterinnen der Volkssolidarität lehnten es ab, zu uns zu kommen, weil sie Angst hatten sich anzustecken. Die Besitzer des Hauses, in dem wir wohnten, stellten uns Essen vor die Tür, ich musste es holen und dann an die Kranken verteilen. Das war wie heute in der Quarantäne“, sagt sie. Als sie später in ihrem Beruf Medizinisch-Technische Assistentinnen und Assistenten ausgebildet habe, beschäftigte sie sich auch mit Medizingeschichte und erfuhr, dass es offiziell in der DDR die Hongkong-Grippe gar nicht gegeben haben soll.

Virus kam über Reisende

Weltweit war die Pandemie zwischen 1968 und 1970 die bislang letzte große Seuche, ähnlich wie die Spanische Grippe zwischen 1918 und 1920, die sich in drei Wellen verbreitete und zwischen 27 und 50 Millionen Menschenleben forderte. Das neuartige Grippevirus sei im Juli 1968 in Hongkong erstmals entdeckt worden, erklärt der Medizinhistoriker Philipp Osten, Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Bereits im Dezember habe das amerikanische Rote Kreuz angesichts von 30 Millionen hustenden und fiebernden US-Bürgern von einer Katastrophe gesprochen.

Die Infektionskrankheit forderte weltweit vermutlich eine Million Tote, defensive Schätzungen gehen von 700.000 Opfern aus, offensive sogar von knapp zwei Millionen. Über US-Soldaten und Reisende sei das Virus in die Bundesrepublik gekommen. Dort seien als Folge der Infektion zwischen 20.000 und 30.000 Menschen gestorben.

Doch exakte Zahlen fehlen, denn da es keine Meldepflicht gegeben habe, sei das Wissen über den Krankheitsverlauf vergleichsweise rudimentär, erklärt Philipp Osten. Dabei seien die Auswirkungen eklatant gewesen. Nach übereinstimmenden Berichten starben beispielsweise in West-Berlin derart viele Menschen in so kurzer Zeit, dass die Toten in U-Bahn-Schächten zwischengelagert werden mussten. Angeblich habe es auch in der DDR Tausende Opfer gegeben.

Begriff Hongkong-Grippe nicht geläufig

An derartige Auswirkungen zwischen 1968 und 1970 im Bezirk Dresden kann sich der Dresdner Facharzt für Innere Medizin Markolf Hanefeld nicht erinnern. „Das gab es bei uns nicht, nicht einmal das Wort. Eine exzessive Sterblichkeit in diesem Zusammenhang ist mir erst recht nicht bekannt“, sagt der 85-jährige Professor, der damals als Oberarzt an der Medizinischen Akademie „Carl Gustav Carus“ arbeitete und in den 1970er- und 1980er-Jahren mehrere internationale medizinische Studien leitete. „Natürlich hatten wir uns Ende der 1960er-Jahre als Ärzte mit Grippewellen auseinanderzusetzen, aber die Hongkong-Grippe hat bei uns keine Rolle gespielt.“ Das bestätigen auf Nachfrage der Sächsischen Zeitung sieben Ärztinnen und Ärzte, die Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre in Polikliniken oder Krankenhäusern in und um Dresden arbeiteten.

Tatsächlich war offiziell der Begriff Hongkong-Grippe in der DDR vielen nicht geläufig. So schreibt es auch Reinhard Ständer aus Hoyerswerda in einer Mail: „Ich kann mich noch sehr genau an die Zeit von Herbst 1968 bis April 1970 erinnern, da ich in dieser Zeit im NVA-Grundwehrdienst in Dömitz (Mecklenburg) war. In beiden Wintern gab es trotz enger Kasernenräume mit acht Soldaten pro Zimmer kaum Grippefälle. Als Nichtraucher hatte ich eher Probleme damit, dass mehrere ständig im Zimmer rauchten, was – heute unvorstellbar – erlaubt war, und deswegen die Fenster weit öffneten. Der Winter 69/70 war ein sehr kalter, die Elbe war durchgehend zugefroren, was dort oben extrem selten vorkommt, und mehrere Soldaten nutzten das zur Flucht über das Eis in den Westen. Trotzdem gab es bei uns kaum Erkältungskrankheiten, problematisch war eher der hohe Alkoholgenuss. Wir trugen einen gestrickten Mund-Nasen-Schutz im Freien wegen der Kälte, nicht wegen Ansteckung. Insofern keine Erfahrung mit der Hongkong-Grippe. Vermutlich hat man nach diesen beiden Wintern nur von einer höheren Zahl an Grippetoten gesprochen. Einschränkungen im Alltag gab es definitiv nicht, denn wir sind alle zwei, drei Monate in vollen Zügen in den Heimaturlaub gefahren, auch im Winter.“

Gefahr wurde heruntergespielt

Die Zeitung Neues Deutschland druckte am 15. Januar 1969 die Nachricht: „Keine Hongkong-Grippe in der Republik“. Der Leiter der Staatlichen Hygieneinspektion erklärte, Erkältungsinfekte hätten in diesem Winter „zu keiner größeren Ausbreitung“ geführt. Die Pandemie wurde als Problem des Westens dargestellt.

Der Historiker Hubertus Knabe, der bis 2018 die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen im ehemaligen zentralen Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit leitete, recherchierte viele Jahre, wie unterschiedlich Gesundheitssysteme in verschiedenen politischen Ordnungen funktionieren, und erklärt: „In der DDR wurde die Gefahr heruntergespielt. Tatsächlich zählten die Behörden jedoch zwischen 1969 und 1971 knapp neun Millionen Fälle meldepflichtiger Atemwegserkrankungen.“

Die 86-jährige Stefanie Schubert erinnert sich sehr genau daran. Sie arbeitete als Lehrerin und sei 1969 als 35-Jährige schwer krank geworden. Die Dresdnerin erzählt: „Ich weiß noch genau, wie ich im Garten die Wäsche meiner zwei Kinder auf die Leine hing und plötzlich einen Schwächeanfall und kaum noch Luft bekam. Zunächst glaubte ich nur an eine kleine Erkältung, aber dann erklärte mir mein Hausarzt, dass mich die Hongkong-Grippe erwischt habe.“

Pandemieplan entwickelt

Beate Gnauck lebte zu der Zeit in Wehlen und berichtet, dass sie 1969 als Kind miterleben musste, wie einer ihrer Mitschüler starb. „Wir malten am Morgen im Unterricht ein Bild vom Friedhof in unserem Ort, und am Nachmittag hieß es, Christoph sei an der Hongkong-Grippe gestorben“, sagt sie. Auch die Dresdnerin Regina Hörnig, die Ende der 1960er-Jahre in Bad Liebenstein lebte, und Annegret Vorberg aus dem Erzgebirge bestätigen, an der Hongkong-Grippe erkrankt gewesen zu sein.

Antje Fröhner aus Dresden weiß noch, wie im Spätherbst 1968 in Pirna die Hongkong-Grippe ausbrach. Sie arbeitete damals als Krankenschwester im Kreiskrankenhaus der Elbestadt und schreibt: „In Erinnerung ist mir, dass einige der Patienten in die Lungenheilanstalt Coswig bei Dresden eingewiesen wurden, weil der Röntgenbefund TBC (Tuberkulose) vermuten ließ. Nach der Hongkong-Grippe, die auch in der Bevölkerung unter diesem Namen bekannt war, wurde eine allgemeine (jährliche) Impfpflicht (gegen Grippe) für Beschäftigte im Gesundheitswesen und einige andere Berufsgruppen ausgerufen, d. h. staatlich angewiesen.“

Der Dresdner Internist Markolf Hanefeld berichtet, dass Wissenschaftler der Medizinischen Akademie Anfang der 1970er-Jahre mit dem Serumwerk in Dresden an Impfstoffen gegen Virengefahr forschten. Die DDR-Führung habe eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen gearbeitet und rang um deren Anerkennung. „Es wurde ein Pandemieplan entwickelt“, sagt Hanefeld. Der Anlass dafür sei aber nicht die Hongkong-Grippe gewesen, sondern die „Antwort auf die Bedrohung durch einen möglichen bakteriologischen Krieg des Westens“.

Im November 1970 trat ein „Führungsdokument“ in Kraft, das vorschrieb, welche Maßnahmen bei einer Epidemie zu ergreifen wären. Der Berliner Arzt und Medizinhistoriker Wilfried Witte, der in der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin der Charité arbeitet, erklärt, dass dieses DDR-Dokument im Ansatz dem nahe gekommen sei, „was heute als Influenza Preparedness Plan der WHO oder Nationaler Pandemieplan der Bundesrepublik maßgeblich ist“. Die WHO verabschiedete ihre Pandemie-Richtlinien erst im Jahr 1999. Der erste Nationale Pandemieplan für die Bundesrepublik wurde 2005 veröffentlicht.

Drei Situationsstufen

Das DDR-Führungsdokument von 1970 enthielt eine klare Definition, wann eine Pandemie vorliegt, nämlich, wenn sich eine Epidemie in mehreren Ländern ausbreitet. Es mussten deutlich mehr Menschen betroffen sein als in Jahren mit „normalen“ Grippewellen. Die Auswirkungen sollten unter anderem anhand der sogenannten Übersterblichkeit im Vergleich zu anderen Jahren gemessen werden.

Um effektiv reagieren zu können, wurden drei Situationsstufen festgelegt: eine interepidemische, eine präepidemische und eine epidemische Stufe. Zu den Maßnahmen im Epidemiefall gehörten die Einrichtung von Operativstäben, die Bereitstellung von Klinikbetten, Medien-Kampagnen, organisierte Impfaktionen sowie die Verteilung von Medikamenten nach dringendstem Bedarf. Es sollten Medizinstudenten als Helfer eingesetzt und zum Beispiel Taxis zu Krankentransportmitteln umgewandelt werden.

Markolf Hanefeld erinnert daran, dass in der DDR ein ganzes System von Katastrophenschutz, sogenannter Zivilverteidigung, umfangreicher Aufklärung und von Schutzimpfungen entwickelt wurde. Das Vorhalten von beispielsweise Gasmasken oder Schutzbekleidung in Lagern sei eine Maßnahme gegen die drohende Gefahr eines biologischen Krieges, aber ebenso gegen grassierende Krankheiten und andere Katastrophen gewesen. Als 1973 die sogenannte England-Grippe grassierte, standen in der DDR 1974 eine Million Impfdosen bereit.

Ende der 1980er-Jahre erhielten Schülerinnen und Schüler eine Grippeschluckimpfung, eine blau-weiße Kapsel, im Rahmen eines Tests. Entwickelt worden war der am 1973 gegründeten Institut für angewandte Virologie in Schöneweide. Hanefeld weiß, dass diese Entwicklungen nach dem Ende der DDR abgebrochen wurden. Auch das alte DDR-Führungsdokument gehörte der Geschichte an und sämtliche Lager mit Katastrophenschutzmitteln wurden aufgelöst.

"Es ging für uns um Sein oder Nichtsein"

Medizinhistoriker Florian Bruns von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg weist in seinen wissenschaftlichen Beiträgen und Vorlesungen immer wieder darauf hin, dass es zu den Lehren der Pandemien der vergangenen 100 Jahre gehöre, dass ein Staat vorsorgen müsse, was allerdings Geld koste. „Reserven bei Personal, Räumen und Material zu bilden, entspricht aber nicht der kommerziellen Logik, die auch im Gesundheitswesen Einzug gehalten hat“, erklärt Bruns. Alles, was nicht ausgelastet und ständig genutzt werde, stehe unter Rechtfertigungsdruck. Hier müsse die Politik ihren Kurs korrigieren. Klinikkonzernen müssten strengere Grenzen gesetzt werden, und zwar dort, „wo die Erzielung von Gewinnen die medizinische und pflegerische Betreuung beeinträchtigt, indem zum Beispiel Stellen eingespart, Arbeitsabläufe extrem verdichtet oder überflüssige Therapien angeboten werden“.

Heinz Henke aus Bautzen erinnert sich an den Hongkong-Fall von vor 50 Jahren: „1970 ereignete sich in unserer jungen Ehe eine für uns sehr nachhaltige Episode. Meine Frau erkrankte so schwer an der damals kursierenden Grippe, dass sie nicht mehr aus dem Bett fand und durchgehend betreut beziehungsweise gepflegt werden musste. Es ging für uns ganz einfach um Sein oder Nichtsein. Sie spricht heute noch davon, dass sie damals nicht wusste, ob sie weiter leben könne oder nicht. Weil unsere Vorfahren außerhalb des Pendelbereichs lebten und zudem noch berufstätig waren, wurde ich zur Pflege meiner Frau ,krankgeschrieben‘. Im Krankenhaus war sie nicht – warum? Die häusliche Pflege war erfolgreich. Die Frau meines vormaligen Kommilitonen in Zella-Mehlis hingegen ist damals nicht genesen. Und was hat uns das Ganze gelernt (formuliert nach Verona Feldbusch)? Wir sind seither darauf versessen, die jährliche Grippeschutzimpfung zu erhalten. Wenn uns die Vertreter der jetzt jungen Generation darauf ansprechen, warum wir so ,bekloppt‘ seien, uns jährlich dem Impfrisiko auszusetzen, erzählen wir von dem, was uns vor 50 Jahren widerfahren ist und nachhaltig geprägt hat.“