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Als die Russen einmarschierten

Lieselotte Portmann war 15, als der Zweite Weltkrieg in Kamenz zu Ende ging. Sie erinnert sich daran, als wär es gestern gewesen.

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Von Lieselotte Schade (geb. Portmann), notiert von Norbert Portmann

Die faschistische Ideologie hatte uns darauf vorbereitet, was uns Frauen und Mädchen erwartet, wenn die Russen kommen. Demzufolge war die Angst sehr groß. Die Familie beobachtete mit einem Fernglas aus der Wohnung in Richtung Elster-aue, wie entlang der Schwarzen Elster Reitertrupps der Roten Armee auf Kamenz vorrückten. Den ersten Kontakt mit russischen Soldaten hatte aber der Großvater. Es war ein furchtloser Mensch. Einige Soldaten kamen den Jesauer Feldweg entlang, sicher um Erkundungen einzuholen. Als sie beim heutigen Reifen-Wenzel um die Ecke bogen, stand Großvater am Hoftor. Er flüchtete nicht, sondern rauchte seelenruhig seine Zigarre weiter. Ein Russe erblickte ihn und kam mit vorgehaltenem Gewehr und aufgestecktem Bajonett auf ihn zu. In gebrochenem Deutsch stellte er ihn die Frage: „Du Faschist?“ Geistesgegenwärtig antwortete Großvater. „Ich kein Faschist, ich Sachse!“. Daraufhin sagte der Russe: „Du guter Deutscher!“

Großvater Richard Portmann hatte in Kamenz eine Fahrrad-Werkstatt.
Großvater Richard Portmann hatte in Kamenz eine Fahrrad-Werkstatt. © privat

Der Russe verschwand wieder, und Großvater kam in die Wohnung zurück. Großvaters Erlebnis trug dazu bei, dass die erste Angst von uns genommen war. Alle noch im Haus verbliebenen Leute, besonders die Frauen und Mädchen, harrten nun der Dinge. Es sollte auch nicht mehr lange dauern, bis die Rote Armee in die Stadt einmarschiert. Was war geschehen? Dort, wo heute in Bernbruch der Gedenkstein steht, hatte Stephan Wischa die Rotarmisten empfangen und ihnen erklärt, dass in der Stadt keine deutschen Soldaten mehr sind. „Sie können kampflos einmarschieren.“ Großvater legte fest, dass jemand die restlichen noch auf der Auenstraße verbliebenen Einwohner informierte, um sich auf der Straße zu treffen.

Trotzdem blieb eine gewisse Angst. Meine Cousine und ich wurden von den Müttern mit Kopftüchern verkleidet. Danach gingen wir zur Hoyerswerdaer Straße. Großvater vertrat die Meinung: Es ist besser, wenn mehrere Personen auf der Straße zusammenstehen. Es sollte auch nicht lange dauern, und von der damaligen Horst-Wessel-Straße (heute Nordstraße) bogen die ersten russischen Einheiten zu Pferde in die Hoyerswerdaer Straße ein. Als Erster ein Offizier mit einem langen Säbel bewaffnet, dann Pferdewagen und eine große Anzahl russischer Soldaten. Sie beäugten uns und wir sie. Unter den russischen Soldaten waren dem Aussehen nach auch Mongolen, Kirgisen oder Tataren. Menschen, die wir erstmals zu Gesicht bekamen. Die erste Begegnung verlief ohne Zwischenfälle, und die Angst war uns etwas genommen. Aber noch war kein Frieden und es konnte noch viel passieren.

Nach geraumer Zeit erschienen russische Soldaten und holten den Großvater ab. Die ganze Familie hatte Angst. Was war passiert? Es hätte ja sein können, dass Kamenzer, die fünf Minuten vor der Angst noch treue Nazis oder deren Anhänger waren, jetzt noch schnell die Seite gewechselt hatten und ehrliche Bürger denunzierten. Später wurden solche Beispiele bekannt. Alle Angst um den Großvater war am Ende aber unbegründet. Die russischen Soldaten wollten ins Rathaus hinein. Die Tür war verschlossen und kein Schlüssel auffindbar. Es gab den Befehl, die schwere eichene Tür zu sprengen. Unter den Offizieren gab es aber einen, der den historischen Wert der Tür mit Schloss erkannte und auf eine sinnvollere Lösung stand. Ernst Klugmann, Mitglied der Gruppe der „Weiße Fahne“, erinnerte sich an die Schlossermeister August Domann und Richard Portmann. Fachgerecht konnten beide die Tür öffnen. Dank der Sachkenntnis eines russischen Offiziers und der fachgerechten Arbeit zweier Kamenzer Handwerksmeister wurden ein historisches Zeugnis, vermutlich noch aus der Einweihung des neuen Rathauses vom Jahre 1848, vor der Zerstörung gerettet. Die ersten Begegnungen mit den angeblichen „Untermenschen“ verlief so anders, als vermutet und bestimmt auch anders als in manchen anderen Gemeinden und Städten. Da mein Großvater Fahrräder reparierte, kamen russische Soldaten auch mit „ihren“ Rädern. Es kam auch zu keiner gewaltsamen Aneignung der in der Werkstatt vorhandenen Fahrräder. Sicherlich konnten sie einschätzen, dass sie ja jemanden brauchten, der nun „ihre“ Fahrräder in Schuss hielt. Einige russische Offiziere suchten Kontakt zu uns, um sich ihre Wäsche waschen zu lassen. Was auch ohne Zwang geschah.

Nach dem 8. Mai mussten sich die in der Stadt verbliebenen arbeitsfähigen Bewohner an Sammelstellen zum Arbeitseinsatz melden. So gab es nur wenige Tage später eine Anweisung, sich mit Hacke und Schaufel auf dem Flugplatz einzufinden. Im Jahr zuvor war dort auf einer großen Fläche Getreidesaat aufgebracht worden. Da das Gelände für den Flugbetrieb wieder gebraucht wurde und die ersten Sprossen schon zu sehen waren, mussten wir uns in langen Reihen aufstellen und mit dem vorhandenen Handwerkszeug den Boden umpflügen. Ein weiterer Einsatz erfolgte in der Kaserne. Dort mussten Gebäude, vor allem die durch Granatbeschuss beschädigten und die total verschmutzten, gesäubert werden.

Tage später gab es noch einen Arbeitseinsatz auf dem Rittergut in Brauna. Die Gruppe, vorwiegend Frauen und Mädchen, gingen am frühen Morgen vom Marktplatz aus Richtung Brauna. Informationen gab es keine, und bekannt war, dass das Gut von Sowjetsoldaten besetzt war. So wurde beschlossen, obwohl wir bereits die Hälfte des Fußmarsches hinter uns hatten, wieder umzukehren. Man sollte uns eine andere Arbeit zuweisen. Als wir in die Einsatzzentrale zurückkamen, wurde uns eine Rüge erteilt. Man hatte bereits erfahren, dass wir nicht angekommen waren. Der Stadtpolizist stand schon bereit, uns in Empfang zu nehmen. Ein weiterer Einsatz stand nicht zur Debatte. Mit einem großen Schlüssel ausgerüstet, brachte uns der Polizist zur Fronfeste auf dem Topfmarkt. Dort führte er uns zu einer kleinen Zelle. Der Platz reichte für alle Beteiligten nur im Stehen. Die beiden jüngsten Mädchen wurden auf eine hohe Kommode gesetzt. Erst nach Nachforschungen einiger Angehöriger nach unserem Verbleib und deren Proteste wurden wir am späten Abend wieder freigelassen.

Wir waren vor allem froh, als mein Vater kurze Zeit später aus der Gefangenschaft wieder nach Hause kam. Er wurde dann wieder im großväterlichen Betrieb tätig. Insgesamt hatte sich gezeigt, dass unser mutiger Großvater mit seiner offenen Art die Lage richtig eingeschätzt hatte.