Als die Steinschiffe fuhren

Meißen. Eines Tages stand ein älterer Herr in der Tür, legte ein Fotoalbum auf den Tisch und erklärte: „Mein Vater hat erzählt, dass er in der Weltwirtschaftskrise arbeitslos war, und da haben sie Leute gesucht, die die Kähne beladen.“
Der ältere Herr ist Wolfgang Kühne aus Meißen, sein Vater Bruno ist groß auf dieser Seite abgebildet. Zwar trägt er auf der Fotografie Zimmermannskleidung, aber auf dem kleinen Foto, auf dem er mit dem Kreuz gekennzeichnet ist, ist die Arbeit zu sehen, die er gefunden hatte.
Bruno Kühne hat in einem der Steinbrüche unterhalb von Meißen zwischen dem Knorre-Felsen und dem heutigen Diera-Zehrener Ortsteil Karpfenschänke gearbeitet. Sein Schicksal erinnert an die Steinschifffahrt auf der Elbe, die über Jahrhunderte einen wichtigen Wirtschaftszweig entlang des Stromes zwischen der Sächsischen Schweiz und den Brüchen unterhalb Meißens darstellte und heute so gut wie vergessen ist.
„Sogenannte Steinschiffer beförderten das abgebaute Steinwerk zu den Bauplätzen der Residenzstadt Dresden, den Steinhandelsniederlagen an der unteren Elbe und zum Teil bis nach Hamburg als Warenumschlagsplatz nach Übersee.“ Wer Steinschiffer werden wollte, brauchte seit 1622 eine Konzession vom Kurfürstlich Sächsischen Oberbauamt, ohne diese war es bei Strafe verboten, Steine auf der Elbe zu fahren. Erst zweihundert Jahre später, 1824, wurde die Steinschifffahrt ein freies Gewerbe. Jedem, dem die Ausübung der Schifffahrt auf der Elbe erlaubt wurde, durfte auch Steine transportieren.
Aus den Brüchen in der Sächsischen Schweiz kam naturgemäß Sandstein den Strom herunter. In den Brüchen bei Meißen wurde Granit gewonnen. Auf Unterschiede zwischen beiden Abbaugebieten macht Steffen Förster, Museologe am Stadtmuseum Meißen, aufmerksam: „Während der Sandstein des Elbsandsteingebirges bereits im Mittelalter gefördert wurde, schlug die Stunde des vulkanischen Gesteins aus der Meißner Gegend erst im 19. Jahrhundert.“ Aufgrund der Industrialisierung und des zunehmenden Seehandels, sei der Bedarf im steinarmen Niederdeutschland stark gestiegen und habe auf beiden Elbseiten, die einst sanften Kuppen in schroffe Felsenlandschaften verwandelt. Nun seien Granit, Syenit und Porphyr in großem Maßstab gefördert worden.
„Für größere Steine kamen Winden und unterlegte Rollen zum Einsatz, kleinere wurden über hölzerne Laufstege mit Steinkarren, einer stabilen Schubkarre mit tiefliegendem Schwerpunkt, auf das Schiff gebracht.“ Für Steffen Förster ist es logisch, dass die Schubkarren zum Steintransport aus Holz und nicht aus Metall waren, wären sie doch sonst nach kurzer Zeit, durch das Hineinwerfen der Steine völlig verbeult gewesen. Auch der sehr tiefliegende Schwerpunkt erklärt sich bei der großen Last, die in der Karre transportiert werden musste – verringerte sich doch dadurch die Gefahr des Umkippens.
Allerdings wurden nicht nur mehr oder weniger große Steine auf die Lastkähne – die extra verstärkte Böden hatten – über schmale Holzbohlen gefahren. Ein wesentliches Gut war Steinschutt. „Als Massenprodukt füllten die sogenannten Horzeln viele Schiffsladungen. Horzeln waren Abfallmaterial und wurden als Bau-, Füll- oder Pflasterhorzeln verwendet.“
Aber nicht nur die Arbeit in den Steinbrüchen war schwer, sondern auch der Transport der Steine auf der Elbe. Bevor diese seit 1866 bis Ende des 19. Jahrhunderts ausgebaut war und so ein durchgängiges Flussbett erhielt, war Folgendes notwendig: „Vor seichten Stellen wurde zur Verringerung des Tiefgangs ein Teil der Steinladung auf ein anderes Schiff verladen, welches man streckenweise mitführte. Bei kurzen Untiefen genügte es dagegen, Steine vorübergehend an Land zu bringen, um diese nach der Überquerung der seichten Stelle wieder aufzunehmen.“
Nicht nur der Flussausbau, sondern auch der Einsatz von Maschinen zum Gesteinsbau, von Kleinbahnen zum Transport und Kränen zur Verladung, erleichterten in den Steinbrüchen und bei der Verschiffung die Arbeit. Allerdings verdrängten nach 1900 Beton, Eisen und Ziegel die relativ teuren Natursteine auf dem Bau. „Diese Entwicklung erreichte dramatische Ausmaße, die Gesamtzahl der in Betrieb befindlichen Brüche verringerte sich von 306 im Jahr 1901 auf 25 im Jahr 1930.“
Und wie war das mit Bruno Kühne? Er arbeitete in einem der Steinbrüche unterhalb von Meißen, ob auf Dieraer oder Zadeler Flur, ist nicht mehr auszumachen. Dort liefen über Verladerampen Feldbahngleise, auf denen die Loren bis an die Elbe rollten. „Die Rampen hatten keine Geländer. Die gesamte Arbeit in den Steinbrüchen war mit hohem Risiko verbunden, oft von Unfällen mit tödlichem Ausgang begleitet.“
Meißener Granit für den Hamburger Hafen und für Helgoland
Wie weit her es mit dem Gestein aus Meißen war, zeigen zwei Beispiele. So sind große Teile des Hamburger Hafens aus Zadeler Granit gebaut worden. Das betraf sowohl die Hafengebäude als auch Molen und Kaimauern. Auch „Teile der Schutzmauer an der Insel Helgoland sind aus Meißener Granit errichtet worden“, das bestätigte Jörg Andres, der Leiter des Museums Helgoland, auf SZ-Nachfrage.
Was den Sandstein aus der Sächsischen Schweiz betrifft, gibt es aufschlussreiche Anhaltspunkte über seine Verschiffung: „Im Jahr 1907 verursachte der Berliner Bauarbeiterstreik einen Rückgang von einem Drittel der Transporte. Jedoch verdoppelte sich das Sandsteinaufkommen 1909 gegenüber dem Vorjahr infolge der Hafenbauten in Magdeburg und er Elbregulierung in Hamburg.“
Um sich Steinmaterial zu sichern, kauften sich Firmen von außerhalb in den hiesigen Steinbrüchen ein. So übernahm die 1907 in Hamburg gegründete Firma Behncke und Mewes 1928 einen mitten in Diera gelegenen Steinbruch und ließ 1930/31 die Schüttbrücke, also die Verladerampe, modernisieren.
Mitte der 70er Jahre wurde dann der Granitabbau zwischen der Knorre und Karpfenschänke eingestellt. Schon ein Jahrzehnt zuvor war das im Elbsandsteingebirge der Fall. „Mit der Steinschifffahrt verschwand ein bodenständiges Gewerbe, das über Jahrhunderte den Arbeitsalltag im Elbtal prägte.“