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Am Grab des Giganten

Ein Pole und ein Deutscher suchen südlich von Niesky nach einem Panzer. Ist er der letzte große Rest der letzten deutschen Offensive des Zweiten Weltkriegs?

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© Wolfgang Wittchen

Von Oliver Reinhard

Der Frühling sprenkelt die Felder der Lausitz mit Löwenzahn. Auch um Ödernitz südlich von Niesky strahlen die Blüten um die Wette mit der Sonne, die sich heute besonders verschwenderisch gibt. Der perfekte Tag für einen Spaziergang. Doch der Mann im Tarnaufzug, der unweit eines halbverfallenen Ritterguts wohlbemessene Schritte ins Feld senkt, ist nicht zur Erbauung hier. Abwechselnd heften sich seine Augen auf das Gras und die Anzeige des Detektors, dessen schlingenförmigen Metallfuß er vor sich hin und her schwingt, was einige Löwenzahnstängel die Blüte kostet, witsch, watsch. Lange geht er so, zieht Meter um Meter seine Bahn, kehrt um, zieht die nächste retour. Bis er stehen bleibt. Der Metallfuß wandert nach rechts, dann nach links, kurz vor, kurz zurück. Kein Zweifel: Dort unten, im Boden, da ist etwas.

Das seltene historische Bilddokument zeigt polnische Truppen Ende April 1945 in der Lausitz. So ein Panzer vom sowjetischen Typ T34 könnte noch im Boden bei Ödernitz liegen.
Das seltene historische Bilddokument zeigt polnische Truppen Ende April 1945 in der Lausitz. So ein Panzer vom sowjetischen Typ T34 könnte noch im Boden bei Ödernitz liegen. © Archiv Dieter Rostowski

„Bernd“, ruft Robert Kowalski, der Mann im Military-Look, über das Feld. Kurz darauf ist Bernd Engelmann bei ihm. „Ein Kontakt, ein großer. Metall. Viel Metall“, erklärt Kowalski. „Könnte sein, dass er das ist“, sagt Engelmann, und durch seine Gelassenheit blitzt, kurz nur, die Spannung des Jägers. Das nämlich sind Kowalski und Engelmann, der Pole aus Zgorzelec und der Deutsche aus Kittlitz. Sie jagen ein längst erlegtes Wild. Einen polnischen Panzer. Der soll vor 70 Jahren hier bei Ödernitz abgeschossen und später verbuddelt worden sein. Sie sind Schatzsucher. Jäger der Vergangenheit. Freaks – so denken viele über Typen wie Engelmann und Kowalski.

Sie selbst bezeichnen sich lieber als Freizeit-Historiker und -Archäologen. Es gibt Tausende, die derselben Leidenschaft verfallen sind, in Deutschland, in Polen, in Frankreich – überall, wo Erster und Zweiter Weltkrieg Spuren hinterlassen haben. Die meisten sind Männer wie der Handwerker Kowalski und der Rentner Engelmann, also zwischen 45 und 65. Viele liegen mit dem Alter sogar darüber. Sie sammeln Geschichten und Gerüchte, stöbern in alten Büchern und Karten, suchen Zeitzeugen, die weiterhelfen können.

Und sie tauschen sich aus; große Teile der Schatzsuchen finden in Internetforen statt. Man gibt sich Tipps, zitiert Kriegstagebücher von Armee-Einheiten, scannt Frontpläne ein. Nicht, dass ihre Entdeckungen Anlässe liefern würden, die Geschichte neu oder wenigstens ein klein wenig umzuschreiben. Aber das wollen sie auch gar nicht. Es geht ihnen um anderes. „Es ist ein tolles Hobby“, sagt Bernd Engelmann. „Und es ist eben aufregend, Überbleibsel des Krieges zu finden. Hier war ja auch einiges los, damals.“

Einiges; das ist einigermaßen untertrieben. Als sich im Frühjahr 1945 die Rote Armee an Oder und Neiße auf die Eroberung Berlins vorbereitete, bekamen die Truppen der 1. Ukrainischen Front Befehl, von der Neiße aus Richtung Dresden zu marschieren. Für den Vorstoß auf Bautzen wurden hauptsächlich die 90 000 Mann der 2. Polnischen Armee bestimmt. Der Angriff begann am 16. April. In äußerst heftigen Kämpfen rückten Polen und Sowjets über Niesky und Horka bis Bautzen. Doch ihre Frontlinie überdehnte und dünnte aus. Kurz darauf begannen Teile der „Heeresgruppe Mitte“ einen Gegenschlag. Es war die letzte deutsche Offensive des Zweiten Weltkriegs überhaupt. Sie verlängerte die längst sinn- und für die deutsche Seite völlig aussichtslos gewordenen Kämpfe in Sachsen um ein paar Tage und verschlimmerte sie um Tausende Tote.

Hin und her tobte die Schlacht um Weißenberg und Bautzen, von Dächern und aus Kellerlöchern wurde geschossen. Auf beiden Seiten kam es zu Kriegsverbrechen. In einer Scheune in Niederkaina wurden 200 Volkssturmleute, alte Männer und Jugendliche, von Sowjets oder Polen verbrannt. In Guttau töteten deutsche Truppen sämtliche Insassen eines polnischen Lazaretts. Gefangene wurden meist sofort „erledigt“. Auf Gnade oder Menschlichkeit konnte niemand mehr hoffen. Die Nähe des gewissen Kriegsendes; sie radikalisierte die Menschen noch, hüben wie drüben.

Besonders hartnäckig bissen sich die Deutschen in einer Gegend fest, die wie eine Ausbuchtung zur ständigen Gefahr für die Rote Armee wurde: das Gebiet zwischen den Königshainer Bergen – und Ödernitz südlich von Niesky. Der polnische Panzer im Boden könnte das letzte größere Überbleibsel jener Tage sein. Wenn es ihn denn gibt. „Vielleicht liegt da unten auch nur Kriegsschrott“, sagt Robert Kowalski. „Damals wurde der ganze herumliegende Kram überall verbuddelt, Waffen, Trümmerteile, und Tote“, ergänzt Bernd Engelmann. Dass hier irgendetwas Großes liegt, scheint immerhin klar. Das Signal des Detektors ist eindeutig. Und es kommt aus der Tiefe einer leichten Senke, wie sie sich überall bildet, wenn Löcher aufgefüllt werden und die Erde im Lauf der Jahrzehnte nachgibt; man kennt das von Friedhofsgräbern. Jedenfalls ist das Feld bei Ödernitz ein Boden, auf dem Gerüchte gut gedeihen.

Bei den Erzählungen eines Besuchers in Kittlitz, wo Bernd Engelmann lebt, haben er und sein Freund Robert Kowalski Witterung aufgenommen. „Der Mann stammt aus dem Westen, ist aber regelmäßig in Ödernitz und hat von der Geschichte des Panzers gehört“, sagt Engelmann. Die klingt so: Der Koloss sei damals zusammen mit anderen Kampfwagen auf das Dorf vorgerückt. Dabei habe er von einer deutschen Panzerfaust oder einem Geschütz einen Treffer in die Ketten erhalten. Die Besatzung des nun fahruntüchtigen T 34 sei ausgestiegen und waldwärts geflohen und möglicherweise dabei erschossen worden.

Irgendwann nach dem Gefecht, heißt es weiter, hätten Kinder das Wrack erklettert und darin herumgespielt. Dabei habe sich ein Schuss oder zwei aus der Kanone oder eine Salve aus dem Bord-MG gelöst. Wegen der Gefahr eines Unglücks hätten daraufhin Anwohner den Panzer mit Traktoren in einen Bombentrichter gezogen – es könne auch eine der vielen damals hier offenen Kiesgruben gewesen sein –, Waffen und Tote hinzugeworfen und das Loch aufgeschüttet. So weit das Gerücht.

Was wird wahr sein daran? Tatsächlich haben am 17. April 1945 mehrere T 34 sowjetischer Bauart das Dorf Ödernitz angegriffen. Sie gehörten zur 4. Polnischen Panzerbrigade und unterstützten die Fußtruppen des 34. Infanterieregiments. Ihr Gegner war der Rest eines deutschen Panzer-Sturm-Pionierbataillons; Experten im Kampf gegen Stahlkolosse. Sie und andere Einheiten der Wehrmacht schossen bei Ödernitz und in der weiteren Umgebung mehrere T 34 ab. Die Front fror fest.

Ein deutscher „Finger“ bohrte sich nun bedrohlich in die polnischen und sowjetischen Nachschublinien Richtung Bautzen. Nicht zuletzt deshalb konnte die Wehrmacht, als am 21. April die letzte größere Panzeroffensive des Krieges begann, noch einmal einen militärischen Erfolg verbuchen und Bautzen sowie andere Orte zurückerobern. Die 2. Polnische Armee erlitt dabei massive Verluste. Jeder fünfte Soldat starb, über die Hälfte ihrer Panzer wurde zerstört. Beiderseits kamen 15 000 Menschen ums Leben, kurz vor Kriegsende. Auch bei Ödernitz, das fortan eingeklemmt blieb zwischen den Fronten. Polen und Sowjets kontrollierten Niesky und die Wälder östlich des Dorfes, im Westen und Süden lagen Deutsche. Bis diese am 5. Mai von dort vertrieben wurden. Dann kam der 8. Mai 1945. Das Sterben aber ging weiter.

Immer wieder knallte es in den Wäldern und auf den Feldern. Überall explodierten Blindgänger. Es traf Tiere und Menschen. In Ödernitz kamen zwei Jungen ums Leben, als sie mit einer zurückgelassenen Panzerfaust spielten und sich ein Schuss löste. Noch ein Vorfall mit Kindern? Vermischen sich da vielleicht zwei Erinnerungen zu einer, die Panzer-Geschichte mit der Panzerfaust-Geschichte? Bernd Engelmann zuckt die Achseln. „Es gibt einen Mann hier, der sich noch genau daran erinnern kann. Erst im November habe ich mich noch mit ihm unterhalten.“ Schon ist Engelmann unterwegs, stapft vom Feld ins Dorf, klingelt bei einem Vierseithof. Eine Frau öffnet. Sie kann nicht helfen. Ihr Vater ist inzwischen gestorben. Wieder ist die Vergangenheit noch ein kleines Stück weiter weg gerückt.

Hinter anderen Türen wartet ebenfalls kein Glück auf Engelmann. Die ältesten Ödernitzer sind Frauen, viele hatten das Dorf im Frühjahr 1945 verlassen und sind erst später zurückgekehrt. Andere haben sich erst nach Kriegsende und Flucht aus Schlesien oder Ostpreußen hier niedergelassen. Wie der 90-jährige Hans Enske, der schräg gegenüber dem Rittergut wohnt.

Seit Sommer 1945 ist er in Ödernitz. Das macht ihn zwar nicht zum wirklich heißen Spurenlieferanten für die Panzerjäger Engelmann und Kowalski. Doch erinnert sich Enske noch gut daran, was der Krieg damals um den Ort herum hinterlassen hatte. An den Kriegsschrott, der überall vergraben wurde. An herumliegende Panzerwracks, die man abtransportierte und zum Bahnhof brachte, zum „Panzerfriedhof“, wie viele das nannten. An einen schreienden jungen Mann, den bei der Feldarbeit ein Blindgänger so schwer verletzte, dass er bald starb. „Immer wieder, manchmal noch Jahre später, stieß man beim Graben und Pflügen auf Tote“, sagt Hans Enske. „Das muss hier furchtbar zugegangen sein. Viele Leichen trugen polnische Uniformen, andere deutsche. Bei manchen war das aber auch nicht mehr zu erkennen.“

Hat man die Toten geborgen und auf einem der Soldatenfriedhöfe in der Gegend bestattet? Hat jemand wenigstens deren Erkennungsmarken eingesammelt und weitergegeben, damit die Angehörigen benachrichtig werden konnten? „Ach, wissen Sie“, sagt Enske und winkt ab. „In diesen Zeiten ... ich glaube, die meisten wurden gleich wieder vergraben.“

Inzwischen hat Robert Kowalski die Beute dieses Tages sortiert. Zwei Patronen von Handfeuerwaffen, Gewehr oder MG, ein Rohrventil sowie ein Metallstück, das aussieht wie das Fragment einer Panzer-Gleiskette, aber dafür viel zu klein ist. Kowalskis spannendste Entdeckung bleibt der Kontakt unterm Löwenzahn. „Mein Gerät funktioniert leider nur bis zu einer Tiefe von maximal zwei Metern“, sagt der 45-Jährige und markiert die Stelle, indem er mit dem Spaten ein kleines Loch gräbt. „Vielleicht finde ich jemanden, der einen größeren und stärkeren Detektor hat, und komme mit ihm irgendwann noch einmal her.“

Und dann? Was, wenn dort unten tatsächlich ein alter polnischer T 34 liegt? „Diesel rein und erst mal ’ne Runde drehen“, sagt Bernd Engelmann, lächelt kurz, macht dann wieder Ernst: „Der wäre ja immer noch Eigentum des polnischen Staates. Vielleicht wollen die ihn haben und restaurieren und stellen ihn dann am Kriegsdenkmal in Zgorzelec auf.“ Die Möglichkeit, dass der Panzer, so es ihn denn gibt, den Nachbarn egal sein könnte, hat der Schatzsucher ebenfalls bedacht. Er überschlägt sie. „Hm ... 35 Tonnen Stahl, das macht beim aktuellen Schrottkurs ungefähr 5 000 Euro.“ Auch die Reste des Zweiten Weltkriegs haben ihren Preis.