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Argentinien ist viel zu weit weg

Maxi Unger aus Elstra liebt das Land der Gegensätze in Südamerika. Im Sommer war sie für fünf Wochen wieder dort. SZ veröffentlicht ihren Bericht.

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© Maxi Unger

Von Maxi Unger

Genau 11 867 Kilometer Luftlinie trennen meinen Heimatort Elstra von Argentinien. Genau 11 867 Meter zu viel – wenn man mich fragt. Argentinien ist ein Land, an welches man sein Herz verliert. Mentalität, Menschen, Landschaft und Lebensgefühl unterscheiden sich komplett von dem, was man in Deutschland gewohnt ist. Es ist auch nicht so, dass alles besser ist. Aber langsam und klammheimlich wickelt dieses Land im Süden Südamerikas einen jeden ein, der dort Zeit verbringt – und lässt ihn nicht mehr los.

Das Erinnerungsfoto mit argentinischer Nationalflagge entstand auf dem Weg zu den Salinas Grandes.
Das Erinnerungsfoto mit argentinischer Nationalflagge entstand auf dem Weg zu den Salinas Grandes. © privat
Nach drei Stunden Fahrt im klapprigsten aller Busse war man in Iruya angekommen. Die Stadt liegt in den Bergen der Provinz Salta und ist nur schwer erreichbar. „Sie besticht durch ihre Schönheit, und schon der Weg dorthin ist eine Reise wert.“
Nach drei Stunden Fahrt im klapprigsten aller Busse war man in Iruya angekommen. Die Stadt liegt in den Bergen der Provinz Salta und ist nur schwer erreichbar. „Sie besticht durch ihre Schönheit, und schon der Weg dorthin ist eine Reise wert.“ © Maxi Unger
Auch an den Salinas Grandes (Großen Salzminen) gab es, wie überall in den nördlichen Provinzen, viele Stände, wo Tortillas –große, z.B. mit Käse gefüllte Teigtaschen – verkauft werden. „Der Mann auf dem Foto bereitet diese gerade zu.“
Auch an den Salinas Grandes (Großen Salzminen) gab es, wie überall in den nördlichen Provinzen, viele Stände, wo Tortillas –große, z.B. mit Käse gefüllte Teigtaschen – verkauft werden. „Der Mann auf dem Foto bereitet diese gerade zu.“ © Maxi Unger

Nachdem ich im Schuljahr 2013/2014 über Rotary elf Monate dort verbringen konnte, vermisste ich es so, in den Tag hinein zu leben und aus der Spontanität von einem Abenteuer ins nächste zu stolpern – genauso wie ich den Optimismus und die Lebensfreude der Argentinier vergeblich suchte. Nach zwei Jahren Deutschland ging es für mich deshalb im Sommer, gleich nach dem Abi, für fünf Wochen zurück. Der Plan: Argentinien genießen, wunderbare Menschen wieder treffen und noch mehr von diesem wunderbaren Land entdecken.

Hüpfpartie in die Stadt

Am Flughafen von Buenos Aires wurde ich von meiner Gastschwester abgeholt. Sie begrüßte mich mit einer Kombination aus Umarmung und obligatorischem Wangenkuss, den nur Argentinier beherrschen. Der Flughafen Ezeiza liegt etwas außerhalb von Buenos Aires, sodass die Busfahrt mehr als zwei Stunden in Anspruch nahm. Das Gefährt wäre in Deutschland womöglich schon längst auf dem Schrottplatz vergammelt. Die Sitze lösten sich auf und eine Federung war wohl gar nicht mehr vorhanden, sodass wir bei jedem der zahlreichen Schlaglöcher fast an die Decke geschleudert wurden. Doch während dieser Hüpfpartie schlich man langsam in das riesige Buenos Aires hinein. Meine Gastschwester sagte: „Jetzt siehst du mal das echte Buenos Aires.“ Wir fuhren durch Vorstadtsiedlungen, wo Mauern die Häuser fast gänzlich verdeckten. Von dort kamen wir an hohen Plattenbauten vorbei, deren Bausubstanz sich scheinbar aufzulösen schien, während die Pflanzen auf einigen Balkonen eindeutig für deren Bewohntheit sprachen. Weiter ging es durch Straßen, die bis auf den Gehweg ohne Lücke von Läden gesäumt war, die das beste Fleisch, die knackigsten Früchte und die echtesten Nike-Turnschuhe anpriesen. Diese Straßen waren bevölkert von Menschen, die gerade von ihrer Arbeit nach Hause kamen und ihre täglichen Besorgungen machten. Gelegentlich strömte auch der Geruch von Asado, gegrilltem Fleisch, durch die undichten Fenster des Busses. Dieses wird oft und gern auf Verkehrsinseln zubereitet und dann von den Argentiniern nach Hause getragen. Von hohen Gummibäumen gesäumte Straßen wechselten sich mit Parks und grauen Straßenzügen ab. Je näher man dem Zentrum kam, desto verschnörkelter wurden die Häuser und man hatte das Gefühl, durch Paris zu fahren. Die folgenden Tage erkundete ich Buenos Aires und das Gefühl zu Hause zu sein, stellte sich ein. Nicht nur einmal fuhr ich zu weit mit dem Bus oder fand die Haltestelle nicht. Doch jedes Mal gab es jemanden, der mir auf die Sprünge half oder mir sogar ein Ticket spendierte.

Der nächste Stop: Resistencia, eine für argentinische Verhältnisse eher kleine Stadt von 350 000 Einwohnern. Hauptstadt der nördlichen Provinz Chaco und Stadt der Skulpturen. Fast an jeder Straßenkreuzung kann man eine Skulptur finden – und alle zwei Jahre findet eine Bienale statt, wo auch internationale Künstler antreten. Resistencia ist jene Stadt, in der ich vor zwei Jahren auch meinen Austausch verbracht hatte. Entsprechend groß war meine Vorfreude und Neugierde, wie ich wohl alles vorfinden würde. Zwei Jahre erscheinen eine unglaublich lange Zeit und zugleich ist es doch nur ein Katzensprung auf der Zeitleiste. Am Flughafen von Resistencia wurde ich dann von meinem Gastvater empfangen und es war, als wäre ich nie weg gewesen, als wir gemeinsam auf dem Weg zum Haus der Familie waren und uns gegenseitig auf den neusten Stand brachten. Ich fühlte mich wieder wie zu Hause.

Jeder ist willkommen

In Resistencia wurde ich auch wieder von der Herzlichkeit und der Gastfreundschaft der Argentinier beeindruckt. „Wir machen Asado Maxi, sie fragen ob du jetzt gleich mitkommen willst“, wurde ich plötzlich von einer Freundin angesprochen – und natürlich habe ich zugesagt. Asado ist nicht nur gutes Fleisch, es ist Gemeinschaft. Und in dieser ist jeder willkommen. Obwohl ich die Leute, mit denen wir gegessen haben, nicht kannte, wurden sie innerhalb eines Abends zu Freunden und wir ärgerten uns regelmäßig, dass wir uns nicht schon eher kennengelernt hatten. Wir philosophierten über Cumbia, die typische Partymusik in Argentinien, und was aktuell dort modern ist und ich wurde in die Kunst des Truco, eines komplizierten Kartenspiels eingeführt. Wieder einmal zeigte sich, dass man in Argentinien eigentlich nie wissen kann, wie ein Tag zu Ende geht, und das man dabei ganz sicher nicht alleine ist. Genauso gehörte es fast zum täglichen Ritual, dass Joha, die zwei Straßen weiter wohnte, mir irgendwann im Laufe des Tages eine Nachricht schickte: „Maxi, wollen wir Fahrrad fahren? Ich nehme auch Mate mit!“ Also nutzten wir die Siesta, die Zeit zwischen 13 und 17 Uhr, wenn die Straßen der Stadt leerer sind als nachts, um mit dem Fahrrad eine Runde zu drehen und uns dann im Park einen schönen Platz zu suchen und einen Mate, das argentinische Nationalgetränk zu teilen. Dieses wird aus einem Gefäß getrunken, das oft ein kleiner ausgehöhlter Kürbis ist. Dazu wird dieses mit Yerba-Kräutern gefüllt und mit heißem Wasser aufgegossen. Getrunken wird dann durch einen Strohhalm, der ein Sieb an einem Ende hat. Mate trinken ist eine nachmittagsfüllende Aktivität, die sehr genossen wird. Das Gefäß wird immer wieder aufgegossen und wandert herum und man spricht über Gott und die Welt, während Zeit, Hektik und Inflation plötzlich nebensächlich erscheinen.

Obwohl die Menschen in Argentinien vor Lebensfreude nur so strotzen und politische Probleme ein unglaublich ergiebiges Gesprächsthema sind, das zu den hitzigsten Diskussionen führt, wird man immer wieder auf die Armut im Land aufmerksam. Nicht nur einmal passierte es mir, dass ich ein paar Stationen zu weit mit dem Bus fuhr und mich plötzlich zwischen Wellblechhütten wiederfand. Da half nur weiterfahren, denn aussteigen ist dort nicht empfehlenswert – jeder, der nicht dazugehört, fällt unweigerlich auf.

Eine andere Welt

Freunde luden mich ein, an einem Samstag mit zu einem sogenannten Merendero zu kommen. Das ist ein Ort in einem ebensolchen armen Viertel, wo Kinder hinkommen können, um Milch und Kekse zu erhalten. Schon der Weg dorthin war ein Abenteuer für sich. Ungläubig schaute ich aus den Fenstern des Busses. Meine Freundin Tami bemerkte meinen Ausdruck. „So ging es mir auch, als ich zum ersten Mal dorthin gefahren bin. Obwohl ich Argentinierin bin ist, das noch einmal eine andere Welt für mich. Wie etwas, was man eigentlich nur aus den Nachrichten kennt.“ Ich nickte – der überall herumliegende Müll, die frei herumlaufenden Pferde, die schlichten Pferdekarren und die einfachen Häuser hatten mir die Sprache verschlagen. Als wir ankamen, konnten wir unsere Sachen im Haus der Familie abstellen, der das Grundstück gehörte. Das Haus war aus Ziegelsteinen ohne Verputzung zusammengesetzt – und ein Wellblech lag als Dach obendrauf. Ein Lineal hatte das ganze wohl noch nie gesehen. Trotzdem merkte man den Menschen, die dort wohnten, ihren Stolz auf ihr Zuhause durchaus an. Auch die Kinder waren eigentlich ganz normale Kinder, die es genossen, dass zwei Jugendliche sich den Nachmittag für sie Zeit nahmen, um mit ihnen zu spielen und zu reden.

Argentinien ist ein Land der Extreme, wo die Armut zur Normalität gehört. Die Kinder beim Merendero werden wohl nie aus diesem Viertel herauskommen, genauso wie es Menschen gibt, die hinter den Mauern ihrer Villa hausen und nie einen Gedanken an das nächste Essen verschwenden müssen.

Mit dem Leben treibenlassen

Trotz dieser Unterschiede war meine Zeit in Resistencia wunderbar. Meine Freunde und Familien nahmen mich auf, als wäre ich nie weg gewesen. Ich genoss die Zeit und fuhr wieder mit meinem Fahrrad durch die chaotischen Straßen, aß leckere von der Haushälterin gemachte Sachen und ließ mich einfach mit dem Leben treiben.

Es sollte aber noch weiter gehen, denn obwohl mir nur noch zwei Wochen blieben, wollte ich gern noch einmal in den Norden, genauer gesagt in die Provinz Jujuy. Der Norden Argentiniens ist etwas abgelegener und entschleunigter als der Rest des Landes. Hier findet man noch die Spuren des Lebens der Ureinwohner, und Europa schien noch einmal weitere zehntausend Kilometer weg. Was mich aber am meisten beeindruckt hat an dieser Gegend, waren ihre Farben. Die Häuser aus Adobe Steinen und die Berge der Provinz Jujuy erstrahlen in den wunderschönsten Rot-, Gelb- und Orangetönen – abgedämpft durch den omnipräsenten Staub. Die Menschen tragen bunte Hüte und ihre Kinder in bunte Tücher gewickelt auf dem Rücken. Auf dem Markt wird plötzlich „Chicharron!“ und „Papas de los Andes!“ angepriesen – ein Fleischgericht mit kleinen, etwas süßen Kartoffeln. Ersteres wird auf offenem Feuer zubereitet.

Ein besonderer Ausflug

Ein Highlight dieser Reise war definitiv der Ausflug nach Purmamarca, wo der „Cerro de los Siete Colores“ zu finden ist – der Berg der sieben Farben. Es ist unglaublich, aber dieser Berg ist kunterbunt. Gelb, grün, rot, orange, braun – und noch die restlichen zwei. Der wohl beeindruckendste Moment an diesem Ort war mein Spaziergang um ihn herum, als die Sonne langsam unterging. Überall sah ich die Menschen, wie sie anhielten, die Sprache verschlagen durch die Schönheit. „Wie wunderschön!“ hörte man in regelmäßigen Abständen, wenn das Licht der untergehenden Farbe eine Farbe besonders leuchten lies.

Jujuy hat meine Liebe zu Argentinien und die Faszination für dieses Land noch einmal auf den Punkt gebracht. Ich wurde von Argentiniern im Hostel aufgenommen, als wäre ich eine von ihnen, und obwohl sie schon zu spät waren für ihren Bus, haben sie mir voller Enthusiasmus für ihr eigenes Land Tipps für meine Reise gegeben. Als einer die Idee hatte, ein Asado zu veranstalten, war ich wie selbstverständlich mit von der Partie. Und einen Mate bekam ich sowieso immer in die Hand gedrückt. Argentinien war wunderbar und ich werde wieder kommen. Und für all die, die noch nicht da waren ist es definitiv ein Grund, Zeit im Kalender zusammenzusuchen, um dieses wunderbare Land mit all seinen Facetten persönlich zu erleben.