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Aus der Geschichte nichts gelernt?

Wer glaubt, es reiche für den Erhalt von Demokratie aus, „gegen rechts“ zu sein, der irrt. Totalitäres Denken lauert überall. Ein Beitrag von Dr. Bert Pampel, stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.

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© dpa PA/Marcus Golejewski/Geisler

Von Bert Pampel

Am 27. Januar twitterte die SPD-Fraktion im Europäischen Parlament ein Foto vom Eingangstor des KZ Auschwitz mit der Aufforderung: „Der heutige Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus mahnt uns, Menschenhass entgegenzutreten. Immer!“ Von Rechtspopulisten, so hören und lesen wir, gehe aktuell die größte Gefahr für die Demokratie aus. Denkt an Weimar, denkt an Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933! Ihr müsst doch die Lehren aus der Geschichte ziehen!

Dr. Bert Pampel ist stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.
Dr. Bert Pampel ist stellvertretender Geschäftsführer der Stiftung Sächsische Gedenkstätten.

Nun lehrt die historische Erfahrung allerdings vor allem, dass Menschen mehrheitlich weniger aus ferner Vergangenheit lernen, indem sie darüber belehrt werden, sondern leider in der Regel erst durch Erfahrungen am eigenen Leibe. Im Weiteren zeigt sich, dass es vom Lehren-Ziehen zur Nutzung von Geschichte für politische Propaganda oft nur ein kleiner Schritt ist. Der Anfang hierzu ist gemacht, wenn nur bestimmte Lehren aus der Vergangenheit gezogen werden dürfen, nur ausgewählte Interpretationen der Vergangenheit zugelassen oder nur genehme Ausschnitte aus ihr präsentiert werden. Diese Praktiken sind nicht nur Diktaturen vorbehalten.

So ist es nur die halbe Wahrheit, historische Lehren allein aus 1933 zu ziehen, und Teilwahrheiten sind oft gefährlicher als gänzlich falsche Aussagen. Wenn wir zurückschauen, dann waren es nicht allein Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus, die zu unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit führten. Auch die Überzeugung, dass moralisch edle Ziele jedes Mittel, gerade auch Rechtsbeugung, Gewalt und Terror rechtfertigen, kosteten Millionen Menschen das Leben. Am 18. Mai 1944, drei Jahre vor seinem Werk „1984“, schrieb der überzeugte Sozialist George Orwell: „Im Großen und Ganzen hat sich die englische Intelligenzia Hitler entgegengestellt, aber nur zu dem Preis der Akzeptanz Stalins. Die meisten von ihnen sind vollkommen bereit für diktatorische Methoden, Geheimpolizei, systematische Verfälschung der Geschichte etc., solange sie meinen, dass dies ,unserer‘ Sache dient.“

Dass wir uns von den Weltanschauungsdiktaturen des 20. Jahrhunderts abgrenzen, ist wichtig, aber nicht ausreichend. Totalitäres Denken war und ist nicht auf Jakobiner, Kommunisten, Bolschewisten, Faschisten, Nationalsozialisten oder Stalinisten beschränkt. Den von dem Politikwissenschaftler Lothar Fritze beschriebenen Typus des „Täters mit gutem Gewissen“ finden wir zwar in vielen judenmordenden SS-Männern, stalinistischen Tschekisten, islamistischen Selbstmordattentätern oder Anders Breivik und anderen Rechtsterroristen vollendet. Sein Dünkel moralischer Überlegenheit und Selbstgewissheit findet sich aber bei Intellektuellen, Politikern und Weltverbesserern jeder Couleur. „Ihre Sache“, höhere Ziele, die alles zu rechtfertigen scheinen, sind nicht die Ertüchtigung der arischen Rasse im Kampf ums Dasein oder der Sieg der Arbeiterklasse im Klassenkampf, sondern beispielsweise die Abschaffung des Nationalstaats und eine multikulturell vielfältige Gesellschaft sowie der Kampf gegen alle, die diesen Zielen auch nur skeptisch gegenüberstehen.

So forderte der Mainzer Politikwissenschaftler Siegfried Mielke, „rechtsaffine Kleinbürger“ in Dresden in einem Polizeikessel mit Wasserwerfern zu traktieren, bis sie sich „alle mal in die Hose gepinkelt haben“, damit ihnen die Lust zum Demonstrieren vergehe. Auf Twitter fordern antifaschistische Aktivisten von „Bomber-Harris“ gegen Pegida britische Luftunterstützung wie zum 13. Februar 1945 an: „Liebe Alliierte, es ist wieder so weit.“ Um der Abwehr einer vermeintlichen „rechten Gefahr“ willen werden also Menschenrechtsverletzungen und sogar massenhafte Menschenopfer gedanklich erwogen und gerechtfertigt.

Während die früheren Bundesverfassungsrichter Di Fabio und Papier der Bundesregierung vorwerfen, mit ihrer Flüchtlingspolitik die Verfassung zu brechen, bekennt der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner, die „ganze Juristerei“ interessiere ihn nicht, wo es um Menschen gehe. Bei der Euro-Rettungspolitik schert man sich schon lange nicht mehr um die in Maastricht vereinbarten Obergrenzen für die Verschuldung. Seit Mai 2010 wird ignoriert, dass der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB verboten ist, und schließlich fiel die im EU-Vertrag von Lissabon vereinbarte Regel, dass ein Mitgliedsstaat nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedsstaates haftet.

Um der europäischen Einigung willen vergessen sind die Lektionen, die die Wirtschaftsgeschichte bereithält, zum Beispiel die verheerenden Folgen einer planwirtschaftlichen Steuerung von Volkswirtschaften. Vergessen ist, dass politisch intendierte, zentral geplante Eingriffe in komplexe Systeme, wie zum Beispiel die gegenwärtigen Versuche der Zentralbanken, den Zins oder die Inflationsrate zu steuern, gewaltige Probleme hervorrufen. Vergessen ist, dass steigendes Kredit- und Schuldenvolumen Instabilität erzeugt. Vergessen scheint, dass vor 1933 die Jahre 1923 (Hyperinflation) und 1929 (Weltwirtschaftskrise) lagen.

Nun wissen wir spätestens seit Max Webers zeitloser Unterscheidung zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischer Politik (1919), dass die „Erreichung ,guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt“. Wenn aber eine Erörterung dieses Dilemmas und die Diskussion unerwünschter Nebenfolgen, zum Beispiel der Massenimmigration, kulturell oder ethnisch inhomogener Gesellschaften oder der Euro-Rettungspolitik, durch Sperrung von asylkritischen Accounts in den sozialen Netzwerken unterbunden, den öffentlichen Ruf von Kritikern zersetzend behindert oder gar rechtlich sanktioniert werden, dann können aus „edler Gesinnung“ üble Folgen erwachsen.

Abschließend mein Fazit aus der Geschichte: Wer erstens glaubt, es reiche für den Erhalt von Demokratie und Freiheit aus, „gegen rechts“ zu sein, der irrt. Er bzw. sie sollte über Friedrich A. Hayeks Mahnung in „Der Weg zur Knechtschaft“ (ebenfalls 1944) nachdenken, „daß nicht wenige, die sich über die Verirrungen des Nationalsozialismus unendlich erhaben dünken und alle seine Äußerungen ehrlich hassen, sich doch für Ideale einsetzen, deren Verwirklichung auf geradem Wege die verabscheute Tyrannis herbeiführen würde.“

Zweitens ein klares Nein: Man denkt nicht nur mit dem Herzen gut. Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschengruppen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder politischen Einstellung sind gefährlich. „Herz“ statt „Hirn“, gesinnungsethische Politik, die sich nicht um ihre Folgen schert, jedoch auch. Wenn ganze Gesellschaften „aus guter Absicht bey Mangel an Überlegung des Teufels Zeug in der Welt anfangen“, so Georg Christoph Lichtenberg in seinen Sudelbüchern, dann droht Unheil.

Drittens verläuft gesellschaftliche Entwicklung zum Glück nicht deterministisch, ist die Zukunft nicht vorgezeichnet, sondern offen. Das Erwartete wird sich nicht ereignen, Unerwartetes wird geschehen. Einiges mag angesichts historischer Erfahrungen wahrscheinlich sein, aber nichts ist unausweichlich.

Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die Denkanstöße geben und zur Diskussion anregen sollen.