Besser fahren im Alter

Als die Polizisten ihm den Führerschein abnahmen, konnte der Mann das nicht ganz verstehen. Warum? Der 90-Jährige war in der Nacht vor Silvester als Geisterfahrer auf der Berliner Stadtautobahn unterwegs. Er stieß mit einem anderen Auto zusammen. Zum Glück wurde niemand verletzt. Wenn so etwas passiert, wird immer wieder eine Frage laut: Bis wann sollte das Autofahren erlaubt sein? Hat der Führerschein ein Verfallsdatum? Senioren hinterm Steuer kennen diese Diskussionen. Viele von ihnen sind sie leid. Gerade wer in ländlichen Regionen wohnt, ist aufs Auto angewiesen: um einkaufen zu fahren, Verwandte zu besuchen, zum Arzt zu kommen und einfach mobil zu bleiben. Eine Dresdner Studie im Auftrag der Unfallforschung der Versicherer widmet sich dem Autofahren im Alter.
Eine Fahrt durch Dresden. Ein älterer Herr sitzt am Steuer, Lisa Zwicker und ein Mitarbeiter der Dekra auf dem Rück- und Beifahrersitz. Ampelkreuzung, Vorfahrt gewähren, Kreisverkehr und ein Stück über die Autobahn – alles funktioniert. Der Fahrer ist vorsichtig. Lisa Zwicker beobachtet alles ganz genau. Es ist keine Prüfungssituation in der Fahrschule, sondern reine Wissenschaft. „An unserer Studie haben sich 135 Autofahrerinnen und Autofahrer beteiligt“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Verkehrspsychologie der TU Dresden. Im Frühjahr 2018 hatten die Forscher Probanden für ihre ganz besonderen Fahrten durch Dresden gesucht. Die Resonanz war riesig. Mehr als 350 Menschen wollten dabei sein. „Viele sagten, sie wollten zeigen, dass auch ältere Menschen gut Auto fahren können.“ Es geht um eine Art Testfahrt, die in zehn Jahren vielleicht schon verpflichtend für Senioren werden könnte. Bei der sogenannten Rückmeldefahrt beobachten speziell dafür geschulte Begleitfahrer das Geschehen am Lenkrad. Nach der Fahrt gibt es eine Einschätzung für die Fahrer: Was hat gut geklappt, was weniger gut und was muss eventuell unbedingt verbessert werden? Es soll älteren Menschen später helfen, die eigenen Fahrfertigkeiten besser einschätzen zu können.
Geistiges Defizit führt zu gefährlichen Situationen
Initiiert hat dieses Forschungsprojekt die Unfallforschung der Versicherer (UDV). Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Verkehrssicherheit auf Deutschlands Straßen zu verbessern und zu helfen, Unfälle zu vermeiden. Dafür lässt sie forschen. „Die Frage, ob Menschen jenseits der 75 noch Autofahren sollten, ist nicht einfach zu beantworten“, sagt Siegfried Brockmann, Leiter der UDV. Statistisch gesehen sind sie zumindest auffällig. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts von 2017 stellt die Generation 75 plus 11,3 Prozent der Bevölkerung und verursacht 8,4 Prozent der Pkw-Unfälle. In 74,3 Prozent dieser Fälle waren sie Unfallverursacher – das ist mit Abstand der höchste Wert aller Altersgruppen. Doch rechtfertigt das ein staatlich verordnetes Abgeben des Führerscheins? „Das geht schon wegen unseres Grundgesetzes nicht“, erklärt Brockmann. Schließlich ist dort geregelt, dass sich jeder frei entfalten darf. Autofahren zu können, gehört dazu.
Doch nicht medizinische Einschränkungen oder eine schlechte Reaktionszeit sind erste Gründe für Unfälle älterer Autofahrer. „Die meisten kennen ihre Schwächen und lassen sich gut medikamentös einstellen“, sagt Brockmann. Ein großes Problem seien aber geistige Defizite. Die führen dazu, dass komplexe Situationen nicht schnell genug erfasst werden können. „Doch wie kriegen wir raus, ob das jemand noch kann oder eben nicht?“ Die Dresdner Wissenschaftler wollten sich das mit ihren Testfahrten genauer anschauen. Ihre Forschungsarbeit ist Grundlage für eine neue 45-minütige Rückmeldefahrt, die die Unfallforschung der Versicherer in den nächsten Jahren entwickeln will.
Testfahrt als Standard?
Das Projekt soll herausfinden, wie so eine begleitende Fahrt in Zukunft aussehen soll. Welche Fahrmanöver sollten enthalten sein? Wie muss die Strecke aussehen? Ist es besser als Begleiter gar nichts zu sagen oder schon während der Fahrt einzugreifen? „Fakt ist, dass wir das Fahrverhalten von Senioren nur dann sehen können, wenn die Menschen wirklich im Straßenverkehr unterwegs sind“, sagt Siegfried Brockmann. Bisherige Fahrten auf Übungsplätzen könnten das nicht abbilden. Mitgemacht haben in Dresden in den vergangenen Monaten Autofahrer zwischen 70 und 92 Jahren. Vorher wurden ihnen Fragen zum Gesundheitszustand gestellt. Im Fragebogen steht auch, wie viel sie fahren und ob sie in den vergangenen fünf Jahren Unfälle hatten. All das und der Ablauf der Testfahrten wird nun ausgewertet. Ergebnisse sollen im Frühjahr vorliegen.
Aus den Dresdner Erkenntnissen soll dann eine allgemeingültige Variante für ganz Deutschland entstehen. Die Forschung geht weiter. Im Mittelpunkt steht nun die Frage, wie nach der Rückmeldefahrt die Fahrpraxis verbessert werden kann. Möglich wäre beispielsweise die Empfehlung von Gedächtnistraining. In zehn Jahren, so hofft Brockmann, soll diese Testfahrt in Deutschland Standard sein. Die müsste dann allerdings verpflichtend und nicht freiwillig sein. „Wäre sie freiwillig, würde sie niemand machen, der sie braucht.“ Der Leiter der UDV hofft, dass er nach Abschluss der Forschungsarbeit bei den zuständigen Politikern Gehör findet. Die Lage würde sich schließlich verschärfen. „Deutschland wird älter und damit auch die Autofahrer auf unseren Straßen.“ Mit der in Dresden erstmals erprobten Rückmeldefahrt könnten die Straßen sicherer werden.