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Bis aufs Höschen

Als erster Nackttänzer der DDR machte Achim Nimmler Karriere und brachte artistische Erotik in den Westen.

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Von Nadja Laske

An die Decke zu gehen, ist nicht Achim Nimmlers Art. Es sei denn, sie hängt zu tief für die Hebefiguren und Sprünge des Tänzers. Dann kracht die Faust schon mal durch Styroporverkleidung im Gästehaus der Genossen. Oder eine Federboa geht in Flammen auf – am Kamin entzündet und förmlich verpufft bei einem Spaß im Saal. Dort feierte Mitte der 80er-Jahre der große Planwirtschaftler der DDR, Günter Mittag, seinen 60. Geburtstag. „Für uns hatte das keine politische Bedeutung, es war ein Protokolltermin“, sagt Nimmler und legt die Zeigefinger über Kreuz vor die Lippen. Darüber sprach man damals nicht.

Im Café Prag, in der „Gondel“, in Bars, Clubs, Varietés und Theatern des ganzen Landes sorgte Achim Nimmler mit seiner Bühnenpartnerin Petra Köhler für heiße Nächte. Foto: Archiv Ernst Günther
Im Café Prag, in der „Gondel“, in Bars, Clubs, Varietés und Theatern des ganzen Landes sorgte Achim Nimmler mit seiner Bühnenpartnerin Petra Köhler für heiße Nächte. Foto: Archiv Ernst Günther

Heute ruhen die alten Geister, doch der Geist des Tänzers ist hellwach. Im Gartenstuhl auf sonnigem Rasenfleck vor seinem Haus am Stadtrand kommen dem 71-Jährigen die Erinnerungen. Zwanzig, dreißig Jahre sind sie alt. Das wurde ihm schon tags zuvor bewusst, als er im Circus Roncalli ein Dutzend Bühnen-Kollegen seiner Generation traf. Die hatte Zirkus-Experte Ernst Günter eingeladen und damit für ein fröhliches Wiedersehen gesorgt.

Stars mit DDR-Bonus

Als erster offiziell zugelassener Nackttänzer der Deutschen Demokratischen Republik hat Achim Nimmler Karriere gemacht. Zusammen mit seiner Tanzpartnerin Petra Köhler reiste er zu Gastspielen, auch in den Westen. Ins Erwachsenenleben gestartet war der Spross einer Bauernfamilie als überzeugter FDJ-Kader. „Auf der Jugendparteischule bin ich in Rhetorik ausgebildet worden“, erzählt er. Sicher und frei sprechen zu können, habe ihm später als Künstler viel genützt.

Der Partei von Nutzen sein wollte er jedoch schlagartig nicht mehr, als er den Prager Frühling live miterlebte, die Demonstranten und die Panzer. „Ich hatte einen Freund besucht und kam ganz zufällig dazu“, sagt Nimmler. Völlig geschockt und wütend fuhr der damals 25-Jährige heim und gab sein Parteibuch ab. Verzichtete auf die Laufbahn, die ihn weg von der ländlichen Scholle führen sollte. „Schon mit drei Jahren habe ich Volkstanzunterricht bekommen, auch klassische Ausbildung war mit dabei.“ Als er nach der Schule jedoch Schauspiel- oder Tanz studieren wollte, sprachen zwei Instanzen dagegen: der Staat, dem ein konfirmierter junger Mann in der Bildungselite nicht behagte. Und die eigenen Eltern, die mit einem solchen Berufswunsch nichts anfangen konnten.

„Nur aus Trotz bin ich Lehrling in der LPG geworden und habe versucht, mit Rinderzucht und Veterinärmedizin das Beste draus zu machen.“ Doch eigentlich wollte er nur fort, war froh, als ihm die FDJ eine Perspektive gab und er zudem ein Studium der Sonderpädagogik in Weimar beginnen konnte. Von dort aus suchte Achim Nimmler Seitenwege zum Traumberuf, tanzte am Theater vor und begann die ersehnte Ballettausbildung. Von Wittenberg aus ging es nach Dresden, wo der Bauernjunge von einst ab 1970 zum Ensemble der Staatsoperette gehörte.

Rund 750 Mark pro Monat standen damals auf seinem Lohnzettel. „Nebenbei haben wir gemuggt und gemerkt, dass wir mit unseren eigenen kleinen Nummern viel leichter Geld verdienen konnten“, sagt Nimmler. Wir, das waren er und eine Tanzkollegin. Die beiden hatten sich ein Soloprogramm aufgebaut und tingelten durchs Land. Die Sommer verbrachten sie wie viele andere Künstler auf Tournee an der Ostsee, und auch sonst gab es genug Ferienheime, Gasthöfe und Privatfeiern, auf denen das Duo gefragt war. Hier der Trott an der Operette, dort die kleine weite Welt, Nimmler kündigte 1983 und machte sich selbstständig.

Dann trat Petra auf den Plan – die Frau, mit der er die Hüllen fallen ließ, ohne einfach nur „nacksch“ zu sein. „Wir haben richtig schwere Hebefiguren gezeigt, anspruchsvolle Artistik und sehr ästhetischen Tanz“, erzählt der Star von einst. Für einige Kollegen seien sie die „Nacktärsche“ gewesen, doch Leute vom Fach und vor allem die Zuschauer wussten die Qualität der Darbietungen hoch zu schätzen. „Wir sind zuerst bekleidet auf die Bühne gekommen und haben uns dann vorm Publikum oder hinter dem Vorhang bis aufs Höschen ausgezogen. Das war von Nummer zu Nummer etwas unterschiedlich“, erzählt Nimmler. Seine Partnerin habe er nie wirklich angefasst, auch wenn es so aussah, als ob seine Hände über ihre nackte Haut streichen. „Erotik im Stile des Kamasutra“, nennt er, was die meist aufgeschlossenen Gäste zu sehen bekamen. Bis zu sechs Auftritte am Tag hatten Achim und Petra, die als Duo Artemis auch in Westdeutschland, Österreich, der Schweiz und in Griechenland auftraten. Fort zu bleiben, der Gedanke sei ihm nicht gekommen, sagt er. „Wir hatten in Wien einen Manager, der sagte: Wenn ihr hier bleibt, seid ihr bald keine Stars mehr. Dann spricht man euch nur noch mit du an und behandelt euch wie Inventar.“ Auch Polen, Ungarn, Jugoslawien gehörten zu den Gastspielzielen.

Flott steppen lernen

Die meisten Strecken fuhr Nimmler im altersschwachen VW Golf, den er gebraucht gekauft hatte. Der war voller Kostüme, alle selbst genäht: Tangas, deren Dreiecke nur von Angelseide am Körper gehalten wurden, Pailletten-Höschen und Federschmuck, für den sie Federn im Zoo und auf Hühnerfarmen sammelten. Jene Boa, die einst im Kaminfeuer ausgehaucht hatte, war zu Nimmlers großem Ärger ruiniert. „Doch wir bekamen ein Paket geschickt.“ Und darin lag: eine neue, schneeweiße, dicke, flauschige Federboa.

Achim Nimmler federt aus dem Gartenstuhl. „Ich arbeite immer noch“, sagt er und schiebt das Basecap aus der gebräunten Stirn. Als Tanz und Stepplehrer unterrichtet er Kinder und Erwachsene. Am Nachmittag hat sich ein Künstler vom Circus Roncalli angekündigt. Er will „auf die Kürze steppen lernen“. Fast nichts ist für Achim Nimmler unmöglich.