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„Brüder zur Sonne“

Vom Revolutionslied zur Nazi-Hymne und zurück: die wundersame Geschichte eines Liedes.

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© Symbolfoto: Gregor Fischer/dpa

Von Emeli Glaser

Bella Ciao, Bella Ciao, Bella Ciao, Ciao, Ciao – so dröhnte es in diesem Jahr durch die Großraumdiskos des deutschen Hinterlandes. Erst einmal ungewöhnlich für ein 150 Jahre altes Partisanenlied. Trotz seiner Geschichte hat die Hymne linker und kommunistischer Bewegungen den zweiten Platz der deutschen Charts und somit die Jugend hierzulande erreicht. Doch das hat weniger mit einem antifaschistischen Engagement dieser Jugend zu tun, sondern damit, dass der Techno-Remix so tanzbar arrangiert wurde. „Bella Ciao“ hat sich unpolitisch in die nächste Generation gerettet. Anders beim deutschen „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Einst war das Lied in Europa mindestens so bekannt, wie „Bella Ciao“ oder gar die „Internationale“. Heute hat es den Status eines vergessenen Volksliedes. Obwohl seine Geschichte nicht ereignisreicher sein könnte.

Im Buch „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Die unerhörte Geschichte eines Revolutionsliedes“ verfolgt der Musikwissenschaftler Eckhard John das Lied akkurat von 1918, als der deutsche Dirigent Hermann Scherchen die Melodie aus Russland mitbrachte, bis heute, wo es praktisch nur noch als geflügelter Begriff herumschwebt. In der Zwischenzeit ging es durch unzählige Hände, von denen manche ideologisch nicht unterschiedlicher sein könnten. Man kann also sagen, „Brüder, zur Sonne“ ist ein Spiegel der europäischen Geschichte.

Bereits der russische Vorgänger hatte einen weiten Weg hinter sich, bevor er nach Deutschland fand. Das Original wurde 1897 in einem Gefängnis in Moskau von einem politischen Gefangenen des Zaren geschrieben. Unter den eingesperrten Kommunisten verbreiteten sich Text und Melodie schnell. „Vorwärts Genossen, im Gleichschritt“ rief es die Arbeiter auf, gegen die Unterdrückung des Zaren zu kämpfen. Sogar Lenin soll es in der Haft gesungen haben. Bei der Revolution 1917 spielte es eine große Rolle als politisches Kampflied. Aus dem Strafgefangenenlied war es in kürzester Zeit zur Revolutionshymne geworden.

Der deutsche Dirigent Hermann Scherchen war zur Zeit der Revolution in Russland und schnappte das Lied dort auf. Zurück in Deutschland adaptierte er es aus dem Gedächtnis für Berliner Arbeiterchöre. 1920 führte er seinen „Russischen Rotgardistenmarsch“ erstmals auf. Mit Symbolen wie Licht im Kontrast zu dunkler Vergangenheit sowie dem Bild einer heiligen letzten Schlacht griff er traditionelle sozialdemokratische Liedmotive der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf, die Version blieb jedoch politisch unverbindlicher als das russische Original. Nachdem die deutsche Novemberrevolution 1918 ohne eigene Revolutionslieder hatte auskommen müssen, fand Scherchens Lied schnell Verbreitung und wurde in kürzester Zeit zum zentralen Lied der Arbeiterbewegung. Diese Version sollte das Vorbild für viele Übersetzungen in andere Sprachen werden.

Bereits in den 1920er-Jahren wurde das Lied zahlreich umgedichtet und bearbeitet. So die Version „Brüder, ergreift die Gewehre“ mit radikaleren kommunistischen Zeilen, wie „Auf, und verjagt die Tyrannen“ oder „schmückt mit blutroten Fahnen Unsere Arbeiterwelt“. Doch „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ blieb das populäre Lied. Es wurde sowohl auf kommunistischer sowie sozialdemokratischer Seite gesungen. Wenigstens auf diese gesungenen Zeilen konnten sich die Lager einigen. Ende der 1920er-Jahre begann die Verbotsgeschichte der kommunistischen Version des Liedes. In einer Mitteilung des Landeskriminalpolizeiamtes Berlin von 1932 heißt es, das Lied sei „aufreizend gegen alles, was nicht zur kommunistischen und Arbeiterklasse gehört.“

Gleichzeitig wurde der originale Liedtext von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ in den Anfangsjahren des „Dritten Reichs“ in über 50 Liedsammlungen von verschiedenen NS-Organisationen abgedruckt. Was heute völlig absurd klingt, war Teil des taktischen Kalküls der NSDAP: Symbole des politischen Gegners an sich reißen und für die eigenen Zwecke benutzen. Umdichtungen folgten: „Brüder in Zechen und Gruben“ mit Zeilen, wie „Börsengauner und Schieber knechten das Vaterland“ und „Hitler treu ergeben, treu bis in den Tod“. Darin vereinten sie Antisemitismus und Führerkult. In anderen Umdichtungen ersetzte man einfach die „blutrote Fahne“ der kommunistischen Partei durch die „Hakenkreuzfahne“. In jedem Fall bezweckten die Nazis durch den Raub vertrauter Melodien, Teile der Arbeiterschaft auf ihre Seite zu ziehen. Anfällig für die NS-Liedgutpropaganda machte es seine inhaltliche Unbestimmtheit. Der Text ist höchstens vage politisch. Er appelliert mit feierlichen Zeilen, wie „Hell aus dunklem Vergangenen leuchtet nun Zukunft“ eher ans Gefühl. Zur Zeit der Sozialistengesetze war diese andeutungsreiche Sprache wichtig. Doch es öffnete aber auch später den Deutungsraum für die NSDAP. Linkes Liedgut schien verloren. „Es ist den Nazis nach 1933 sehr schnell gelungen, die ungeheuer kreative Infrastruktur einer über lange Zeit gewachsenen Arbeitermusikkultur für immer zu zerstören“, so Eckhard John.

Darum ist es auch verblüffend, dass „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ bei Antifaschisten trotzdem seinen freiheitlichen Symbolwert behielt. In Frankreich und Slowenien wurde das Lied tatsächlich zur Hymne der Résistance, die sich im Gebirge vor den Nazis versteckt hielt. Bei den jugoslawischen Partisanen reflektierte der Text direkt die Gegenwart des Zweiten Weltkrieges: „Nieder mit Faschismus und Krieg!“ Und beim Sieg über den NS-Staat sang man „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ wieder als Zeichen der Befreiung. Sowohl Hitlergegner im Exil als auch befreite Häftlinge im KZ Buchenwald stimmten es an. Die Zeile Scherchens „Seht wie der Zug von Millionen endlos aus Nächtigem quillt“ bekommt in diesem Kontext eine völlig andere, gar nicht glorreiche Färbung, die das Grauen der vorangegangenen Jahre ansatzweise erahnen lässt.

Und so wurde das Lied nach Kriegsende – trotz der Nazis – als sozialdemokratisches Arbeiterlied aufgefasst. Die nächste Aneignung von „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ folgte jedoch kurz darauf. In der DDR wurde es direkt ins Programm der Staatsmusik aufgenommen und war verdammt zur „Erstarrung als sozialistische Feiermusik“, so John. Wieder war es nicht die Musik der Menschen, sondern gehörte dem Regime. Natürlich wussten die DDR-Bürger sich ihren Spaß damit zu treiben und sangen heimlich: „Brüder, versauft eure Gelder“.

Im anderen Deutschland gehörte „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ bald zur SPD und wurde von der neuen linken Liedermacherszene angenommen. Auch hier entstanden Satireversionen auf Kosten des DDR-Sozialismus: „Brüder im Wartburg zur Freiheit, Schwestern im Sputnik empor“. Trotz aller verschiedenen Rezeptionen thematisierte kein einziger die NS-Vergangenheit des Liedes.

Letztlich ist „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ der Zeit zum Opfer gefallen. Schon in den 1980er-Jahren konnte man das Ende vom alten Arbeiterlied spüren. Die Badische Zeitung kommentierte eine DGB-Veranstaltung: „Die Kundgebung wurde mit dem Absingen des Liedes „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ beendet. Viele Arbeitnehmer blieben aber stumm. Sie kannten den Text des Arbeiterliedes nicht.“

Heute ist „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ komplett veraltet. Der Grund dafür ist vermutlich profan. Eckhard John begründet das mit der Veränderung des politischen Liedes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Gitarrenschrammelei und „Macht kaputt was euch kaputt macht“-Schreien entsprach eher dem Zeitgeist der 1970er. Keiner wollte mehr sakrale Männerchorsätze singen.

Eine letzte Hoffnung gibt es noch für den Oldie: Der „Rotgardistenmarsch“ könnte einem experimentierfreudigen DJ zufallen und im nächsten Sommer als Techno-Version als Party-Hit einschlagen. „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ würde eine weitere Evolutionsebene erreichen: den völligen Kommerz.

Buchtipp: Eckhard John, Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Die unerhörte Geschichte eines Revolutionsliedes. Ch. Links Verlag, 15 Euro.

Der Liedtext:

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,

Brüder zum Licht empor!

Hell aus dem dunklen Vergangnen

leuchtet die Zukunft hervor.

Seht, wie der Zug von Millionen

endlos aus Nächtigem quillt,

bis eurer Sehnsucht Verlangen

Himmel und Nacht überschwillt!

Brüder, in eins nun die Hände,

Brüder, das Sterben verlacht!

Ewig, der Sklav’rei ein Ende,

heilig die letzte Schlacht!