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Corona-Stillstand? So was gab's schon mal

Ein langjähriger Reiseleiter aus Nünchritz erinnert sich an eine Situation aus der DDR, die der heutigen auffallend ähnelt.

Von Christoph Scharf
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Der Nünchritzer Gerhard Proske war jahrzehntelang Reiseleiter - und er kann sich noch an den Tag erinnern, an dem die DDR-Reisebüros auf Anweisung ähnlich wie heute fast den kompletten Betrieb einstellen mussten.
Der Nünchritzer Gerhard Proske war jahrzehntelang Reiseleiter - und er kann sich noch an den Tag erinnern, an dem die DDR-Reisebüros auf Anweisung ähnlich wie heute fast den kompletten Betrieb einstellen mussten. © Sebastian Schultz

Nünchritz/Elbland. Einkaufszentren, Gaststätten, Hotels, große Geschäfte - von einem Tag auf den anderen alles dicht. Wer hätte sich so etwas vor Corona schon vorstellen können? "Manche sagen: der Tourismus ist tot!", schreibt Gerhard Proske an die SZ. Aber der 81-Jährige erinnert sich: So etwas Ähnliches hatten wir doch früher schon einmal erlebt. Wenn auch nicht so schlimm wie heute - aber doch mit frappierenden Ähnlichkeiten.

Im Herbst 1981, vor fast 40 Jahren, stellte der damalige VEB Reisebüro seine Tätigkeit bis auf ganz wenige Ausnahmen völlig ein. Der Nünchritzer kann sich deshalb so genau erinnern, weil er über seine Tätigkeit als DDR-Reiseleiter genau Tagebuch führte.

"Die Nebenstelle Riesa des Reisebüros veranstaltete keine Reisen mehr. Die dort beschäftigten Frauen führten nur noch zwei Tätigkeiten aus: organisierte Fahrten absagen und eingezahlte Beträge zurückerstatten", sagt Proske.

Mit  ähnlichen Tätigkeiten sind heute Mitarbeiter in Reisebüros, Veranstaltungsagenturen, Ticket-Verkaufsstellen beschäftigt. Damals in der DDR traf es aber vor allem eine Sparte: die Busreisen.

"Es gab ganz einfach keine Dieselkontingente für Autobusse mehr", sagt Gerhard Proske. Wie seine Kollegen war der damalige Reiseleiter plötzlich ohne Beschäftigung. Und mancher schaute wohl etwas wehmütig in den Westen. "Auch ich sagte mir damals: Da fehlt nur der Kapitalismus! Dort gäbe es so etwas nicht", erinnert sich der Nünchritzer.

Seine beruflichen Reisen hat Gerhard Proske penibel im Tagebuch notiert: Zu DDR-Zeiten war er allein 20-mal in Erfurt, aber auch in der Hohen Tatra oder den Weißen Karparten. Nach 1990 änderten sich die Reiseziele.
Seine beruflichen Reisen hat Gerhard Proske penibel im Tagebuch notiert: Zu DDR-Zeiten war er allein 20-mal in Erfurt, aber auch in der Hohen Tatra oder den Weißen Karparten. Nach 1990 änderten sich die Reiseziele. © Sebastian Schultz

Laut seinen Unterlagen startete am 27. September 1981 die letzte Busfahrt mit Proske als Reiseleiter nach Meißen und von dort mit dem Motorschiff auf der Elbe nach Pillnitz. Aber warum war der Diesel plötzlich knapp? So genau weiß der 81-Jährige das nach 40 Jahren nicht mehr. "Auch die Kollegen, die ich gefragt habe, können sich daran kaum erinnern", sagt Proske. Wenig überraschend - nach den Jahrzehnten.

Ein Hinweis findet sich in den Protokollen des Zentralkomitees der SED, die sich heute im Bundesarchiv online recherchieren lassen. Unter dem Datum 29. September 1981, zwei Tage nach der letzten Busfahrt Proskes, findet sich dort ein interessanter Tagesordnungspunkt: "3. Maßnahmen zur weiteren Einsparung von Vergaser- und Dieselkraftstoff im Parteiapparat". 

Diesel war offenbar knapp im Herbst 1981. Die Gründe dafür kennt der Historiker Hans-Hermann Hertle. Die DDR hatte sich ein Jahr zuvor so stark wie noch nie beim Westen verschuldet. Die Erdölpreise waren schon Ende der 70er explodiert, worauf die DDR erste Maßnahmen unternahm, Heizöl und Kraftstoff einzusparen.

"Als sich 1981 die Kürzung der sowjetischen Erdöllieferungen abzuzeichnen begann, wurden die bis dahin unsystematischen Einzelmaßnahmen in einem umfassenden Programm der 'Heizölablösung' in der gesamten Wirtschaft, im privaten Verbrauch und selbst bei den 'bewaffneten Organen' einschließlich der sowjetischen Streitkräfte in der DDR gebündelt", schreibt Hertle in seinem Standardwerk "Der Fall der Mauer". 

Es musste also nicht nur der VEB Reiseverkehr in Riesa Diesel sparen, sondern sogar NVA und Sowjetarmee. Republikweit wurden mit einem Milliardenaufwand Heizwerke von Öl auf Braunkohle umgerüstet, die Kohleförderung stieg massiv. Große Teile der so eingesparten Erdölprodukte wurden devisenbringend nach Westeuropa exportiert.

Von den Hintergründen dürfte der Otto-Normalbürger seinerzeit wenig erfahren haben. Aber die Folgen waren nicht zu übersehen. "Wir Reiseleiter saßen monatelang zu Hause", erinnert sich Gerhard Proske. Bis es dann die Idee gab, die Reisen statt mit dem Bus mit der Reichsbahn zu absolvierten.

"Aber etliche Reiseleiter rebellierten", sagt der Nünchritzer, der bis in die 90er als Reiseleiter arbeitete und die Zeit bis zur Rente noch als ABM-Kraft überbrücken musste. Viele Leute seien 1981 entsetzt gewesen: "Also keine bequemen Autobussitze mehr, sondern Bänke in Eisenbahnwaggons." Und das Abliefern der Gäste fast vor ihrer Haustür war damit auch passe. "Aber Ideen waren erforderlich", sagt Proske. Auch wenn die Reisen nun mit mehr Fußwegen verbunden waren.

Seinem Reisetagebuch kann er entnehmen, wo es in der Diesel-Krise hin ging. Per Zug nach Dresden und dann mit dem öffentlichen Bus zum Dresdner Fernsehturm etwa. "Der war damals eine Attraktion", sagt Proske. Ein Bummel im Park Sanssouci oder Wandern mit Kaffeetrinken auf der Festung Königstein gingen ebenfalls - beide Orte konnte man ebenfalls mit der Bahn erreichen. 

"Wir mussten uns eben was einfallen lassen", sagt Proske. Auch wenn manch Reiseteilnehmer gar mit Beschwerden bei der SED-Kreisleitung gedroht habe, sei es insgesamt doch schön gewesen. Ein halbes Jahr lang blieb es seiner Erinnerung nach bei dieser Situation.

Wochenlang mussten wegen der Corona-Pandemie Reisebüros in ganz Deutschland geschlossen bleiben, hier ein Eindruck aus Schwerin. Mittlerweile dürfen kleine Geschäfte wieder öffnen - aber Hotels und Gastronomiebetriebe bleiben weiter dicht.
Wochenlang mussten wegen der Corona-Pandemie Reisebüros in ganz Deutschland geschlossen bleiben, hier ein Eindruck aus Schwerin. Mittlerweile dürfen kleine Geschäfte wieder öffnen - aber Hotels und Gastronomiebetriebe bleiben weiter dicht. © Jens Büttner/dpa

Die radikalen Heizöl-Sparmaßnahmen hatten laut Historiker Hertle allerdings Folgen für viele DDR-Bürger: Der Staat musste völlig veraltete Kohle-Chemie-Anlagen in Betrieb halten. "Die Steigerung des Braunkohleverbrauchs führte zur höchsten Schadstoffbelastung der Luft durch Schwefeldioxyd, die in Europa gemessen wurde", schreibt Hertle. 

Weil nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen auch noch ein Kreditboykott des Westens gegen die DDR dazu kam, exportierte der Staat neben Rohstoffen auch Konsumgüter vom Gasherd bis zum Fahrrad gegen Devisen in den Westen - zu Lasten der inländischen Versorgung.

Den wirtschaftlichen Kollaps konnte die DDR nach 1981 nur noch vertagen. Was die Corona-Krise heute wirtschaftlich für Folgen hat, lässt sich noch gar nicht abschätzen. Auch Gerhard Proske will sich da kein Urteil erlauben. Dass es derart umfassende Eingriffe des Staates auch in der Marktwirtschaft gibt, hätte wohl Anfang des Jahres kaum jemand geglaubt.

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