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Das Abenteuer Sachsenring

Ein Dorfbürgermeister organisiert Deutschlands größtes Sportereignis. Ein Abgeordneter kontrolliert ihn. Die Staatskanzlei gibt ihren Segen und viel Geld. Bislang ist das gut gegangen.

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© Arvid Müller

Von Ulrich Wolf und Hannah Behm

Wer bei diesem Mann an ein Boxenluder denkt, der tickt nicht richtig. Auch dröhnende Motoren, benzingeschwängerte Luft oder quietschende Reifen sind nicht seine Welt. Der Mann fährt nicht einmal Motorrad. Und doch hält er den Kopf hin für das größte Einzelsportereignis der Republik: den Großen Preis von Deutschland für Motorräder auf dem Sachsenring. Zum Grand Prix 2016 strömten 212 000 Menschen an den Parcours bei Hohenstein-Ernstthal. Mehr als elf Millionen Menschen verfolgten das Rennen live im Fernsehen, fast 500 Medienvertreter aus 30 Ländern reisten an. In den sozialen Netzwerken erschien der Hashtag #MotoGP knapp eine Milliarde Mal.

Die Ösen sind los am Transparent „Simply Saxony“. Das ist nahezu symbolisch, denn so einfach, wie das Banner suggeriert, sind die sächsischen Belange am Sachsenring nicht zu lösen. Der Freistaat pumpt nicht nur Millionen in die Werbung am Sachsenring, son
Die Ösen sind los am Transparent „Simply Saxony“. Das ist nahezu symbolisch, denn so einfach, wie das Banner suggeriert, sind die sächsischen Belange am Sachsenring nicht zu lösen. Der Freistaat pumpt nicht nur Millionen in die Werbung am Sachsenring, son © Arvid Müller

All das ist Wolfgang Streubel zu verdanken. Er leitet die Geschicke der Sachsenring Rennstrecken Management GmbH (SRM), die seit 2012 den Grand-Prix-Zirkus im Chemnitzer Land veranstaltet. Und das macht der mittlerweile 65-Jährige nicht einmal im Hauptberuf. „Ich bin ein 0,2-Kopf“, sagt Streubel und lächelt. Gerade einmal ein Fünftel seiner Arbeitszeit darf er dem Sachsenring widmen.

Sein eigentlicher Job ist der des Bürgermeisters von Gersdorf, ein 4 000-Einwohner-Ort im Landkreis Zwickau. Zwar hat die SRM mit dem altehrwürdigen Rathaus von Hohenstein-Ernstthal eine repräsentative Postadresse, doch seine Entscheidungen fällt Streubel in einem unscheinbaren Büro voller Akten in der Gersdorfer Gemeindeverwaltung an der Hauptstraße. Der ehemalige Bauingenieur strahlt die Gelassenheit eines weisen Großvaters aus. „Ach wissen Sie“, sagt er, „natürlich reichen die 20 Prozent nicht. Im Prinzip geht für den Sachsenring bei mir zusätzlich jeder Samstag drauf. Und während der Rennwoche nehme ich mir Urlaub.“

Bürgermeisteramt und Geschäftsführerposten miteinander zu vereinbaren, das ist Streubels geringste Sorge. Die Renntage selbst sind es, die ihn zittern lassen. Wie wird das Wetter? Wie viele Tageszuschauer werden kommen? Vor allem aber: Haben wir genügend Geld eingenommen?

Das sommerliche Motorsportspektakel auf dem 3,7 Kilometer langen Rundkurs mit seinen Steigungs- und Gefällstrecken, den zehn Links- und drei Rechtskurven ist alljährlich ein Ritt auf der finanziellen Rasierklinge. Der Grund ist so einzigartig wie die Strecke: Der Sachsenring ist von allen 18 Stationen im alljährlichen Grand-Prix-Zirkus die einzige Rennstrecke, die immer wieder aufs Neue hergerichtet werden muss. Darum sind die Kosten wesentlich höher als anderswo. Summa summarum kostet ein Grand Prix am Sachsenring bis zu neun Millionen Euro.

Das ist an und für sich kein Problem, läge das wirtschaftliche Risiko bei einem privaten Veranstalter. Doch die SRM ist ein rein kommunales Unternehmen. Es gehört den Städten Hohenstein-Ernstthal und Oberlungwitz, dem Landkreis Zwickau sowie den Gemeinden Bernsdorf und eben Gersdorf.

Wenn Streubel aus seinem Bürofenster auf die andere Seite der Hauptstraße schaut, fällt sein Blick auf ein Kleinod, auf die sanierte Hessenmühle am Hegebach. Dort ist nicht nur das Museum für den großen Sohn des Orts, der Expressionist Heinz Tetzner, untergebracht; auch das Vereinshaus findet sich dort. Es ist traditionell der Tagungsort des Gersdorfer Gemeinderats, auch am Abend des 19. Juli dieses Jahres.

Auf der Tagesordnung steht unter anderem eine Kapitalerhöhung für die SRM, es ist bereits die zweite seit 2013. Als ein Ratsmitglied den Bürgermeister mit einem Artikel aus einer Fachzeitschrift über angeblich rote Zahlen der SRM konfrontiert, antwortet Streubel: „Die im besagten Presseartikel getroffenen Aussagen entsprechen keineswegs der Realität.“ Er dürfe in der Öffentlichkeit jedoch keine weiteren Aussagen treffen und hoffe, das Defizit werde nach dem Rennen 2016 vorüber sein. Ist es aber nicht. Etwas zögernd, aber durchaus offen räumt Streubel nun ein: „Auch nach dem diesjährigen Rennen ist ein Löchlein in der Bilanz der SRM geblieben.“

Mit üppiger  Finanzkraft  konnten  die kommunalen Grand-Prix-Veranstalter noch nie aufwarten. Ihre Gewinnaussichten sind ebenso wahrscheinlich wie der Versuch, einen Motorradritt in extremer Schräglage durch die Queckenburg am Sachsenring erfolgreich zu meistern. Seit dem ersten Kommunal-Grand-Prix im Jahr 2012 summierten sich die Verluste auf rund 1,3 Millionen Euro. Um eine Überschuldung zu vermeiden, mussten die beteiligten Kommunen ihre Haftungsanteile an der SRM erhöhen. Dabei erweisen sie sich als durchaus kreativ: Sie nahmen das Geld aus Gewerbesteuereinnahmen, Anteilrechten, nicht benötigten Mitteln fürs Karl-May-Haus in Hohenstein-Ernstthal, Anteilsrechten, sonstigen liquiden Mitteln oder stellten es in die Nachtragsplanung. Die Landesdirektion Sachsen als zuständige Aufsichtsbehörde genehmigte all das, allerdings unter rigiden Auflagen.

Dass die SRM nicht schon viel eher ins Kiesbett getrudelt ist, das hat sie auch dem Freistaat zu verdanken. Die Staatskanzlei wertet den Grand Prix als „ein herausragendes sportliches Ereignis mit internationaler Strahlkraft“. Sie ist deshalb ein Werbepartner der SRM. Sichtbares Zeichen davon ist der in den Farben des Freistaats kolorierte Start- und Zielturm. An der Rückseite hängen zudem zwei Transparente: „So geht sächsisch“, ist auf einem zu lesen. „Simply Saxony -– einfach Sachsen“ auf dem anderen. 17 weitere Banner kommen in der Rennwoche dazu. Drei Millionen Euro hat sich die Staatskanzlei diese Werbung bislang kosten lassen. Obwohl die SRM im Prinzip nichts mitzureden hat im Millionengeschäft rund um die Motorrad-Weltmeisterschaft. Als wolle der Fahrer einer 125 Kubikmeter-Maschine ein Rennen gegen den Fahrer einer 1 000 Kubikmetermaschine antreten.

Das Teuerste an der Veranstaltung eines Grand Prix sind die Lizenzen. Zu zahlen sind die an das spanische Unternehmen Dorna, das wiederum zwei Investmentfirmen aus England und Kanada gehört. Die Spanier vermarkten die 18 Rennen um den Weltmeistertitel im Auftrag des Motorradweltverbands FIM in der Schweiz. Beim Sachsenring verhandeln die Dorna jedoch nicht mit der SRM, sondern mit dem ADAC in München, der als Lizenznehmer fungiert. Jährlich geht es um Gebühren von mindestens drei Millionen Euro. „Den Vertrag zwischen Dorna und ADAC kennen wir nur in Auszügen“, sagt Streubel. Was bedeutet: Die Spanier und der größte Automobilklub der Welt klären die wesentlichen Bedingungen für das Rennen am Sachsenring unter sich, das gesamte finanzielle Risiko aber trägt allein die kommunale SRM als Veranstalter.

Der Grund dafür ist historisch bedingt. Als die legendäre Rennstrecke nach der Wende vor dem Aus stand, wurde sie mit der Idee eines Verkehrs- und Sicherheitszentrums gerettet. Daran beteiligte sich auch der ADAC, bis 2011 veranstaltete der ADAC Sachsen auch den Grand Prix. Nach hohen Verlusten zog er sich jedoch zurück. Quasi aus dem Nichts sprang die SRM ein, für eine sorgfältige wirtschaftliche Analyse blieb keine Zeit. Streubel räumt ohne Umschweife ein: „Natürlich ist ein Grand Prix der Motorrad-WM per se keine kommunale Aufgabe.“ Einen anderen jedoch habe es nicht gegeben. „Wären wir nicht gewesen, dann gäbe es heute vermutlich keinen Großen Preis von Deutschland mehr.“

Das betont auch Marco Wanderwitz. Der CDU-Bundestagsabgeordnete ist Aufsichtsratschef der SRM. Der Sachsenring sei ihm eine Herzensangelegenheit, sagt der 41-Jährige in seinem Büro im sechsten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses in Berlin. „Für uns waren damals die Bücher des ADAC eine Blackbox“, macht Wanderwitz deutlich. Um gleich hinterher zu beschwichtigen: „Direkt mit der Dorna abzuschließen, hätte das ohnehin vorhandene Risiko weiter erhöht.“ Man habe den ADAC in München gebeten, die Verhandlungen fortzuführen. „So konnten wir zumindest auf bewährte Strukturen und Vertragsbeziehungen aufbauen.“ Dennoch habe die SRM kräftig Lehrgeld gezahlt. „Liquidität war bei uns ein Dauerthema.“ Doch nach und nach seien die Kosten optimiert worden. „Einen direkten Zuschuss jedenfalls haben wir von den Kommunen der SRM noch nicht benötigt.“

Für die reine Veranstaltungsorganisation mag das zutreffen, auch wenn etwa allein der Aufbau der mobilen Tribünen rund 800 000 Euro verschlingt oder die externe Stromversorgung 600 000 Euro. Müsste die SRM noch die Infrastrukturkosten übernehmen, wäre längst Exitus. Etwas mehr als 32 Millionen Euro Fördermittel flossen seit 1990 in die Rennstrecke. Im nächsten Jahr muss der Streckenbelag erneuert werden, weitere 2,2 Millionen Euro Steuergeld stehen dafür bereit. Dabei monierte der Landesrechnungshof bereits 2003: „Der Ausbau der Rennstrecke wurde gefördert, obwohl ein Gesamtkonzept fehlte.“

Das ist bis heute so. Wanderwitz bekennt: „Der Sachsenring wird sich inklusive der Investitionen niemals rechnen.“ Aber bei geförderten Fußballstadien sei das ja nicht anders. Der Abgeordnete und der Bürgermeister, beide sehen den Grand Prix als wichtige Wirtschaftsförderung. „Nehmen Sie unser kleines Gersdorf“, sagt Streubel. „Von dem Weltmeisterschaftsrennen profitieren bei uns der Fleischer, die Brauerei, eine Zimmerei und eine Elektrofirma.“ Gut 20 Millionen Euro lassen die Zuschauer an Umsatz in der Region rund um den Sachsenring, zwischen fünf und sechs Millionen Euro Steuern bleiben davon hängen.

Manchmal sieht man das sogar. Etwa beim Schwalbenhof in Bernsdorf, wo Thomas Müller Ferienwohnungen vermietet. Aus den Wiesen auf der anderen Straßenseite macht der 45-Jährige während des Grand Prix einen Campingplatz mit 300 Stellplätzen. Die Weltmeisterschaft lasse sich extrem gut vermarkten, sagt er, „sonst ist hier ja nichts los“. Die ganze Welt schaue während der Renntage auf Sachsen, die Menschen in der Region seien rennsportverrückt. „Wo sonst finden Sie mehrere Hundert freiwillige Helfer? Und das seit Generationen?“

Ein Stück weiter die Dorfstraße hinauf steht Jens Langkeit in der Tür der Gaststätte „Bärliebengut“. Zwischen dem Gerümpel im Innenhof hängen Unmengen Plakate von legendären Sachsenring-Rennen. Überlebenswichtig sei er für ihn, der Grand Prix, sagt Langkeit. In der Rennwoche mache er den Großteil vom Jahresumsatz. „Überall, wo wir Platz haben, bauen wir was hin: Grillstände, Theken, Bars, Zeltplätze. Dann schuften wir rund um die Uhr.“ Das mache nahezu jeder im Dorf. „Die Stimmung ist wie bei einem Volksfest.“

An nebligen Herbsttagen wie jetzt ist davon nichts zu spüren. Ein einziges blaues E-Kartrennauto dreht seine Slalom-Runden. Das Banner des Fördervereins Sachsenring, das für den Erhalt des Moto-Grand-Prix wirbt, hat Schimmel angesetzt. Nur der Slogan eines Autohauses lässt einen schmunzeln inmitten der Tristesse: „Von null auf glücklich“.